Jürgen Kohler sieht das Rennen um die deutsche Meisterschaft offen wie lange nicht. Der Weltmeister von 1990 lobt die Transfers von Borussia Dortmund und hält das Team trotz des Ausfalls von Sébastien Haller für einen ebenbürtigen Herausforderer des FC Bayern.
Weltmeister über FC, BVB & Bayern Modeste Sturm-Ersatz bei den Spitzenklubs? Das sagt Kohler
Ein Weltmeister im Interview: Jürgen Kohler (56), ehemaliger Weltklasse-Verteidiger, spricht bei EXPRESS.de über die Titel-Chancen von Borussia Dortmund und die Rolle des 1. FC Köln in der neuen Saison.
Außerdem wagt der Ex-Profi, der in der Bundesliga für Mannheim, den 1. FC Köln, den FC Bayern München und den BVB spielte, einen Blick auf die Weltmeisterschaft in Katar und nennt seine Sorgen über die Entwicklung im deutschen Fußball.
Für ihn ist klar: Der ungewohnte Terminplan wird mental allen einiges abverlangen. „Psychologisch wird diese Saison die größte Herausforderung – für alle Beteiligten“, sagt Kohler.
Weltmeister Jürgen Kohler im großen Interview
Jürgen Kohler, vor ein paar Wochen haben Sie Borussia Dortmund das Favoritenschild verpasst, wie stellt sich die Situation nach der Schocknachricht von Sebastién Hallers Hodenkrebserkrankung für Sie dar?Jürgen Kohler: Ich bin immer noch der Meinung, dass der BVB sich sehr gut verstärkt hat. Ich kann ja nachvollziehen, dass man jetzt sagt, dass der Trainer Zeit bekommt und man die Erwartungen herunterschrauben will. Aber: Mit Nico Schlotterbeck, Karim Adeyemi und Niklas Süle kamen nur Nationalspieler. In der Tat muss man jetzt abwarten, was mit Haller ist. Hoffentlich wird er schnell gesund. Da kann man nur alle Daumen drücken.
Die Bayern haben ihren Torjäger Robert Lewandowski an den FC Barcelona verkauft.Jürgen Kohler: Ja, da bin ich wirklich gespannt. Sie wollen nun einen anderen Fußball spielen, höre ich. Das ist ja schön und gut. Aber Robert Lewandowski war nie verletzt und hat dir wettbewerbsübergreifend mindestens 40 Tore garantiert. Und das zehn Jahre lang. Die Tore muss erstmal einer schießen. Sadio Mané ist ein Weltklasse-Fußballer, unbestritten. Aber er ist ein ganz anderer Typ.
Kohler: FC Bayern kann sich Timo Werner nicht leisten
Timo Werner ist zu haben. Sollten der FC Bayern München zuschlagen?Jürgen Kohler: Er wäre eine Verstärkung, aber ich habe meine Zweifel, dass sich die Bayern das derzeit leisten könnten.
Weil man schon viel Geld in die Innenverteidigung gesteckt hat.Jürgen Kohler: Ja, wenn man die vergangenen Jahre mitzählt, sind allein in die Innenverteidigung mehr als 200 Millionen Euro geflossen. Ob das Thema nun mit Mathijs de Ligt erledigt ist, muss sich zeigen. Da zeigt sich, wie schwer es ist, wirkliche Weltklasse-Innenverteidiger zu finden und zu verpflichten.
Wenn sowohl Dortmund als auch Bayern Vakanz ganz vorne haben, wäre da Anthony Modeste vom 1. FC Köln ein Kandidat?Jürgen Kohler: Das glaube ich nicht. Mir hat Tony als Stürmer schon in Hoffenheim gefallen, seine Physis, die Art, wie er Tore macht. Aber man muss das Spiel auf ihn zuschneiden. Und das wird in einem Spitzenklub nicht passieren. Bei aller Qualität: Er ist keiner für das oberste Regal.
Tragen Bayern und der BVB den Titelkampf unter sich aus?Jürgen Kohler: Abwarten! Auch Leipzig hat eine richtig gute Mannschaft, Leverkusen genauso. Der Schlüssel ist die Konstanz. Die muss man über eine Saison lang hinbekommen, wenn man die Bayern hinter sich lassen will.
Beim 1. FC Köln war Anthony Modeste in der vergangenen Saison die Lebensversicherung.Jürgen Kohler: Als ich euch vor einem Jahr erzählt habe, der FC hat das Zeug für einen einstelligen Tabellenplatz, da hat mir keiner geglaubt (lacht). Aber Steffen Baumgart hat erkannt, dass man mit Modeste vorne drin nicht auf die Grundlinie muss, sondern auch Flanken aus dem Halbfeld genügen. Zudem hat er eine Einheit geformt. Der FC war immer dann stark, wenn viele Eigengewächse spielen. Und Baumgart schafft es, diese Eigengewächse einzubinden.
Was ist dieses Jahr drin für den FC?Jürgen Kohler: Man muss sehen, wie sie die englischen Wochen durch die Mehrfachbelastung verkraften. Baumgart wird rotieren müssen, damit die Spieler das physisch und mental wegstecken. Durch die lange Pause wird die Saison für alle Beteiligten psychologisch ohnehin zu einer Riesenherausforderung. Für alle Beteiligten. Aber der FC kann den Vorjahreserfolg durchaus wiederholen, ich traue ihnen wieder einen Platz in der oberen Tabellenhälfte zu.
Für Jürgen Kohler ist Deutschland Mit-Favorit
In nur vier Monaten wartet dann die Weltmeisterschaft auf uns. Welche Chancen hat das deutsche Team?Jürgen Kohler: Wir haben sicher auf einigen Positionen so unsere Probleme, es gibt keinen herausragenden Mittelstürmer, die Außenpositionen sind problematisch, auch fehlt mir ein überragender Sechser. Aber die deutsche Mannschaft ist mit ihren Problemen nicht allein, für mich fehlen in der Generation nach Lionel Messi und Cristiano Ronaldo die wirklichen Superstars, die echten Weltklassespieler. Deshalb gehört für mich das deutsche Team zu den drei, vier Titelaspiranten. Wenn wir eine Erfolgswelle erwischen und die Nationalelf sie richtig reitet, kann das uns sehr weit bringen.
Und trotzdem sehen Sie skeptisch in die Zukunft?Jürgen Kohler: Ja, weil es in allen Mannschaftsteilen Probleme gibt und wir es nicht schaffen, echte Spezialisten auszubilden. Nicht mal mehr im Tor. Wenn Manuel Neuer, ter Stegen und Trapp mal aufhören, fehlt es langfristig auch an einem Weltklasse-Keeper, da ist ja auch nichts in Sicht.