Es ist schon jetzt eines der wichtigsten Geschehnisse rund um diese WM: Sinead Farrelly spielt nach fast acht Jahren wieder Fußball, und zwar bei einer Weltmeisterschaft, nach einem Wechsel des Nationalteams.
Frauenfußball-KolumneDas Spiel zurück im Leben: Sinead Farrelly für Irland bei der WM
Sie trifft mit Irland gleich zu Beginn des Turniers mit Australien auf eines der gastgebenden Länder.
Was im ersten Moment wie eine Kuriosität klingen mag, hat allerdings schwerwiegende Hintergründe. Denn die 33-Jährige ist eine der Spielerinnen, deren Aussagen gegen ihren ehemaligen Trainer Paul Riley u. a. bei den Portland Thornes dazu führten, dass die gesamte NWSL nach langem unter-den-Teppich-kehren auf den Prüfstand gestellt wurde. Es ging um verschiedene Formen sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch sowie ein systemisches Fehlversagen der Liga dabei, Spielerinnen zu schützen.
Sexualisierte Gewalt im Frauen-Fußball: alarmierende Untersuchungsberichte
Gleich zwei Untersuchungen über die Liga wurden eingeleitet und Ende letzten Jahres vorgestellt: Der sogenannte Yates Report, benannt nach und geleitet von der ehemaligen stellvertretenden Generalstaatsanwältin der Vereinigten Staaten, Sally Yates, dessen Ergebnisse im Oktober 2022 veröffentlicht wurden. Sowie die 14 Monate andauernde von der NWSL und Spielerinnengewerkschaft NWSLPA organisierte Ermittlung, dessen Bericht im Dezember letzten Jahres veröffentlicht wurde.
Beide kamen zu vernichtenden Ergebnissen. Allein zwischen dem 1. Juli 2019 und dem 30. Juni 2020 hatten Spielerinnen 1509 Vorfälle gemeldet, nur acht Prozent dieser Fälle wurden formal überhaupt abgeschlossen. Unter Vorwänden und vagen Äußerungen über „nicht zum Verein passendes Verhalten“ entlassene Trainer fanden immer wieder Anstellung bei anderen Klubs. Diese zeigten ihrerseits in dem vollen Wissen über vorliegende Vorwürfe kein Interesse daran, diesen vor der Einstellung nachzugehen. Das bis dahin bestehende System nutzte nur den Beschuldigten. Beide Berichte geben Handlungsempfehlungen, die nun sukzessive umgesetzt werden sollen bzw. zum Teil schon umgesetzt sind.
Entscheidend dafür, dass es nach vielen über die Jahre bekannt gewordenen Vorfällen endlich zu diesen unabhängigen Untersuchungen kam, war eine ausgedehnte Recherche von Meg Linehan und Katie Strang für „The Athletic“, erschienen am 30. September 2021. In dieser kommen neben vielem anonymen Quellen eben auch Sinead Farrelly, ihre damaligen Teamkolleginnen bei den Portland Thorns, Meleana Shim und Alex Morgan, zu Wort. Die US-Starstürmerin spielte eine wichtige Rolle dabei, die Liga unter Druck zu setzen und Protest zu organisieren.
Die Recherche und die beiden Untersuchungen haben den US-Fußball umgewälzt, u. a. trat 2021 Liga-Chefin Lisa Baird zurück, die Trainer Paul Riley, Rory Dames, Richie Burke und Christy Holly wurden Anfang 2023 lebenslang gesperrt, Riley war zuvor bereits die Trainerlizenz entzogen worden. Er war 2015 von den Portland Thorns entlassen worden, nachdem Meleana Shim innerhalb des Vereins eine formale Beschwerde gegen ihn eingereicht hatte. Danach aber, das beschreibt der Yates-Report im Detail, gab sich die Führungsebene der Portland Thorns alle Mühe, die wahren Gründe für diese Entlassung Rileys zu vertuschen – der nur wenige Monate danach vom NWSL-Verein Western New York Flash eingestellt wurde.
Gavin Wilkinson, Hautgeschäftsführer der Thorns und als solcher verantwortlich für die Anstellung Rileys und das Verschweigen von dessen wahren Entlassungsgründen, wurde nach den Ermittlungen genauso gefeuert wie Unternehmenspräsident Mike Golub, der selbst unangemessene sexualisierte Bemerkungen geäußert haben soll. Fans und Sponsoren drängten zudem Klub-Besitzer Merritt Paulson zum Verkauf, bis heute blieb es bei der Ankündigung, Paulson trat aber als CEO zurück.
Im März 2023 gab der NWSL-Klub NJ/NY Gotham FC Sinead Farrellys Verpflichtung bekannt, fast acht Jahre nach ihrem letzten Spiel in der Liga im Jahr 2015. Offiziell beendet hatte sie ihre Karriere 2016 nach einem Auto-Unfall, inzwischen ist aber eben sehr deutlich, dass es noch ganz andere Gründe gab: Den vorgeworfenen jahrelangen Missbrauch in Form von sexualisierter sowie emotionaler Gewalt durch den ehemaligen Trainer der Portland Thorns, Paul Riley, und dessen Folgen für Farrellys psychische Gesundheit und Karriere. Sowohl sie als auch Meleana Shim sagten in der Vergangenheit, dass Riley ihnen vieles genommen habe, ihre Karrieren, den Fußball.
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Farrelly, ehemalige U-Nationalspielerin für die USA, galt immer als großes Talent, als eine Spielerin, die womöglich zu den besten Mittelfeldspielerinnen der Welt gehören könnte. Im Jahr 2011, kurz vor der WM in Deutschland, wurde beim US-Nationalteam verletzungsbedingt ein Kaderplatz frei, Farrelly wurde zu einem Trainingslager eingeladen. Als sie von dort zurückkehrte, setzte Riley sie unter Druck, sie habe ihn verraten, sie dürfe nur zur Nationalelf, wenn er dort Trainer sei. Farrelly, kurz darauf erneut eingeladen und ernstzunehmende Kandidatin auf einen Platz bei der WM, sagte ab.
Als der irische Verband im April bekannt gab, dass ihr Wechsel von der Fifa genehmigt wurde, folgte der erste Länderspieleinsatz kurz darauf – in einem Testspiel gegen die USA. In den vergangenen Monaten drückten der 33-jährigen viele Fans die Daumen, jetzt folgte nach der vorläufigen Kadernominierung für die WM auch die ganz Offizielle.
Ihr selbst gehe es vor allem darum, das Spiel, den Fußball, die Freude daran wieder in ihrem Leben zu haben, sagte Farrelly nach ihrem ersten Auftritt für Irland, sie müsse auch jetzt noch sehr auf sich achten, was die körperliche Belastung angeht, aber auch den selbstgemachten Druck.
Annika Becker ist freie Autorin bei EXPRESS.de und kümmert sich in ihren Kolumnen um das Thema Frauenfußball. Sie ist Mitglied von FRÜF - Frauen reden über Fußball.
Sinead Farrellys Rückkehr auf den Platz ist bewegend und ein echtes Signal, das Mut macht. Die WM-Teilnahme wirkt für uns Außenstehende vielleicht sogar wie ein i-Tüpfelchen der späten Genugtuung auf der ganzen Geschichte. Ob das tatsächlich so ist, könnten Farrelly und Shim, die nun beide gemeinsam bei Gotham unter Vertrag stehen, nur selbst sagen. Fußballfans waren sich lagerübergreifend jedenfalls vielleicht noch nie so einig darin, wem sie von Herzen nur das Beste wünschen.
Insgesamt ist das Thema Missbrauch im Fußball aber mitnichten beendet. Dafür gibt es allein in diesem Sport viel zu viele Vorfälle, dabei gelangt nur ein Bruchteil davon überhaupt an die Öffentlichkeit. Es sollte mit Blick auf Deutschland auf keinen Fall in Vergessenheit geraten, dass letztes Jahr eine Bundesligaspielerin in einem ARD-Panorama-Beitrag anonym von sexualisierten und sexistischen Bemerkungen ihres Trainers berichtete. „Verein und Trainer haben sich mittlerweile einvernehmlich getrennt“, heißt es dort weiter. Oder mit anderen Worten: Irgendwo in den Weiten der Fußball-Ligen-Pyramide ist dieser Mensch vielleicht erneut aktiv. (abe)