Seit 2014 lässt der DFB auf Basis der Online-Spielberichte der Unparteiischen ein Lagebild des Amateurfußballs erheben. Die Entwicklung schockiert. 911 Begegnungen wurden abgebrochen.
Dramatischer AnstiegAmateurfußball: Noch nie mussten so viele Spiele abgebrochen werden
Diese Zahlen sind alarmierend. In der Saison 2021/22 wurden 911 Fußballspiele in Deutschland aufgrund von Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen abgebrochen.
Seit 2014 lässt der DFB auf Basis der Online-Spielberichte der Unparteiischen ein Lagebild des Amateurfußballs erheben. Noch nie mussten so viele Spiele in einer Saison abgebrochen werden.
DFB: Jedes 1339. Spiel in der vergangenen Saison wurde abgebrochen
„Der Fußball ist ein Brennglas für die Probleme in der Gesellschaft“, sagte Fan- und Gewaltforscher Gunter A. Pilz (77) am Mittwoch (19. Oktober 2022) in einer Runde, an der auch EXPRESS.de teilnahm. „Die Frustrationstoleranz sinkt aufgrund zahlreicher Probleme. Die Probleme der Menschen machen nicht vor den Toren der Fußballplätze Halt.“
Der Verband präsentierte deshalb die traurigen Fakten: In der Saison 2021/22 wurden von 1.455.416 ausgetragenen Spielen 1.219.397 Spiele mit einem Online-Spielbericht erfasst. Bei den erfassten Partien wurden 5582 Vorfälle, davon 3544 Gewalthandlungen und 2389 Diskriminierungen, gemeldet.
Die Quote der Spielabbrüche war über Jahre stabil geblieben, dies hat sich nun geändert. Im Schnitt wurde jedes 1339. Spiel in der vergangenen Saison – der ersten komplett durchgespielten nach der Corona-Pandemie – abgebrochen.
Dr. Thaya Vester (40) berät den DFB bei den Ergebnissen des Lagebilds. Sie hat mehrere Details festgestellt: „Zum einen gibt es eine Häufung im Spätherbst. Dabei dominieren Diskussionen über vermeintliche Fehlentscheidungen oder Konflikte zwischen Spielern, ob ein Foul vorgelegen hat oder nur ein harter Zweikampf. Die meisten Vorfälle passieren in den niedrigen Ligen, wo man nicht einmal absteigen kann“.
„Die Bundesliga muss sich ihrer Vorbildfunktion mehr bewusst werden“
Die Tübinger Kriminologin sagt: „Es steht außer Frage, dass ein Spiel sofort abgebrochen werden muss, wenn Unparteiische tätlich angegangen werden. Wie aber beispielsweise auf Diskriminierungen reagiert werden soll, ist vielen nicht klar. Es muss noch mehr darüber informiert werden, dass der Drei-Stufen-Plan auch im Amateurfußball gilt.“
Zudem nimmt sie auch die Profis in die Pflicht: „Die Bundesliga muss sich ihrer Vorbildfunktion mehr bewusst werden. Wenn Trainer dort an der Seitenlinie permanent toben, dann denken sich viele, dass sie auch auf dem Dorfsportplatz die Sau rauslassen können.“
Fanforscher Pilz, der den DFB bei der Entwicklung eines Gewaltpräventionskonzepts beraten hat, sagt: „Der Anstieg der Spielabbrüche muss uns Sorgen machen, zumal ein Trend erkennbar wird. Auch in den ersten Wochen der neuen Saison mussten mehr Spiele abgebrochen werden. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Bildungsniveau und der Bereitschaft zu körperlicher Gewalt. Auf dem Platz werden soziale Konflikte ausgetragen.“
Er regt alternative Formen der Sanktionierung an. „Bisher wurde nach solchen Fällen mit Geldstrafen oder Sperren gearbeitet. Aber wir müssen in den Köpfen der Menschen etwas ändern. Bei uns in Celle hat ein Spieler einen Unparteiischen krankenhausreif geschlagen. Ihm wurde angeboten, die Sperre zu halbieren, wenn er einen Schiedsrichter-Lehrgang belegt und selbst Spiele pfeift. Das hat er gemacht und das hat bei ihm zu einem Umdenken geführt, nachdem er gemerkt hat, wie schwierig das ist.“
DFB hat in allen 21 Landesverbänden Anlaufstellen für Gewaltvorfälle
Um eine wirksame Bearbeitung der Vorfälle zu gewährleisten, ist in jedem der 21 Landesverbände des DFB eine Anlaufstelle für Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle eingerichtet worden. „Zuletzt haben wir die Präventions- und Interventionsarbeit deutlich ausgebaut. Bei dieser Anstrengung dürfen und werden wir nicht nachlassen“, sagte DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann (61).
Gleichwohl räumte auch er ein: „Es gibt leider nicht das Patentrezept, um Gewalt aus der Gesellschaft und dem Fußball herauszubekommen.“ Das unterstrich auch Vester: „Wir hatten gehofft, dass nach Corona die Menschen erleichtert sind, endlich wieder Sport treiben zu können. Doch nun gibt es noch mehr Krisen. Und leider ist der Fußball für einige da ein Ventil.“