In Bundeswehr-DokuSoldat macht seinem Ärger vor der Kamera Luft: „Alles Egoisten geworden“

Deutschlands Armee braucht Personal. Quereinsteigerin Samira steht am Beginn einer neuen Karriere bei der Bundeswehr. (Bild: SWR)

Deutschlands Armee braucht Personal. Quereinsteigerin Samira steht am Beginn einer neuen Karriere bei der Bundeswehr. (Bild: SWR)

„Kriegstüchtigkeit beginnt in den Köpfen“, heißt es in einer neuen ARD-Doku zum Stand der „Zeitenwende“. Soldatinnen und Soldaten sagen vor der Kamera harte Sätze über die neue Realität in Europa. Der Bundeswehr fehlt es derweil an Personal, Gerät –und womöglich auch Mentalität.

Lange schlummerte die Bundeswehr vor sich hin. Doch seit Putins Einmarsch in der Ukraine ist alles anders geworden. Drei Tage nach der Invasion sprach Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „Zeitenwende“. Es wurde plötzlich allen bewusst, dass es der Truppe an Material und an Soldaten fehlt.

Wie ist die Lage zweieinhalb Jahre danach? - Das wollten die SWR-Reporter Thomas Schneider und Rainald Becker wissen. Sie schauen in ihrem Film „Zeitenwende Hautnah – Ein Jahr mit Soldaten“ (in der ARD-Mediathek) deutschen Soldatinnen und Soldaten über die Schultern. Dabei wird klar: Es fehlt weiter an Geld und Tempo - aber auch an der Haltung einer an Frieden und Wohlstand gewöhnten Zivilgesellschaft.

Vermittelt wird „Hausfrauenenglisch“ statt internationalen Militärbegriffen

Wie tief die Kluft zwischen den in der „Zeitenwende“ formulierten Zielen der Kriegstüchtigkeit und der Wirklichkeit ist, weiß wohl kaum jemand besser als Eva Högl. Die Filmemacher treffen die leidgeplagte Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages in der Nato-Kaserne in Rukla, Litauen. Dort sollen auch deutsche Soldatinnen und Soldaten die Nato-Ostflanke vor den Russen sichern.

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Högl hat Stift und Notizblock dabei, doch schon die erste Wortmeldung aus der Truppe passt kaum aufs Papier: „Wir haben aufgrund der schlechten Einsatzlage des Großgeräts sowie des kleinen Übungsplatzes, der überbelegt ist, und verschiedenen Schwierigkeiten beim Thema Munitionsanforderung usw. keine Möglichkeiten mehr, mit Großgerät Ausbildung zu betreiben.“ Puh!

Auch an den Fremdsprachenkenntnissen hapert es offenbar, wie ein anderer Soldat durchblicken lässt. „Verzeihen Sie den Begriff 'Hausfrauenenglisch'. Es hilft uns nichts, wenn wir über Urlaube reden können oder an der Bar ein Bier bestellen können, das wir eh nicht trinken dürfen.'“ Militärische Fachbegriffe, mit denen sich die Männer und Frauen in den internationalen Einheiten verständigen könnten, werden offenbar nicht vermittelt.

„Früher wurde einfach ein Befehl umgesetzt, da wurde nicht diskutiert“

Nachdem die Wehrbeauftragte dann auch noch die von Schimmel befallenen Kasernenstuben besichtigt hat, zieht sie ein nicht mehr überraschendes Fazit: „Ich bin noch nicht so zufrieden, dass ich sagen kann, die Truppe hier ist zu 100 Prozent einsatzbereit und hat alles, was sie braucht. Es fehlt an Funkgeräten, es fehlt an Nachtsichtgeräten, es fehlt an großem Gerät.“

Es fehlt an Gerät - aber womöglich fehlt es darüber hinaus auch an Mentalität. Marcel (die Nachnamen bleiben im Film aus Sicherheitsgründen anonym) ist Hauptmann und Chef einer Ausbildungskompanie im bayerischen Weiden.

Er ist schon lange beim Bund und wundert sich über die neue Generation: „Die Jungs und Mädels, die herkommen, sind völlig redegewandt“, sagt er und meint das nicht nur positiv: „Früher wurde einfach ein Befehl umgesetzt, da wurde nicht gefragt, es wurde auch nicht diskutiert.“ Auf das provokante Reporter-Stichwort „Weich-Eier“ antwortet der Hauptmann diplomatisch: „Wir haben völlig unterschiedliche Zustände, was die persönliche Fitness angeht.“

„Wir Soldaten sind nicht kriegsgeil“

Beim Zentrum Innere Führung in Koblenz stellt man sich ganz ähnliche Fragen und auch sehr grundsätzliche. Seminar-Leiter Oberstleutnant Bernd schwört die Runde der Vorgesetzten auf die neue Realität ein: „Unsere Aufgabe besteht nicht nur in grünen Häkchen in der Tabelle, sondern darin, unsere Männer und Frauen auf ein mögliches bevorstehendes Gefecht vorzubereiten.“

Schon kommt die Rückfrage: „Wie kriege ich denn jemanden dazu, ohne ihn mit der Waffe zu zwingen, freiwillig auf diesem Hügel anzugreifen und zu wissen: Ich sterbe wahrscheinlich dabei?“

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Es sind harte Fragen, die hier verhandelt werden. Auch, weil sich keiner mehr Illusionen hingibt. Wäre die Bundeswehr als reine Freiwilligen-Armee in der Lage, einen Krieg zu führen? Ein Offizier antwortet vor der Kamera frei heraus: „Ich kann nicht sagen, wie viele Reservisten wir wehrfähig haben, mit denen wir uns am Tag x verteidigen können. Aber mit den gut 200.000 werden wir es definitiv nicht schaffen.“ Ein anderer ergänzt wütend bei einem späteren Besuch der ARD-Teams: „Das freiwillige Engagement in der Gesellschaft ist ein bisschen den Bach runtergegangen. Alles Egoisten geworden!“

Die Kinder sagen vor Einsätzen inzwischen „besonders lieb tschüss“

Sind wirklich alle Egoisten? Natürlich nicht. Es gibt in der Truppe auch ehrgeizigen Nachwuchs wie Hauptmann und Panzerkommandant Yannik (29): „Wir Soldaten sind nicht kriegsgeil. Wir machen das, um Leben zu schützen und Abschreckung zu erzielen“, sagt der Zeitsoldat, der dennoch zögert, sich als Berufssoldat zu verpflichten. Einen Plan B, ein VWL-Studium, hat er sicherheitshalber in der Tasche.

Ähnlich nüchtern sieht es die junge Rekrutin Samira, die bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen hatte, ehe sie zum Bund kam: „Es ist für mich eine Karrierechance. Ich kann weiter kommen, als ich im zivilen Berufsleben gekommen wäre.“ Allerdings weiß auch sie: Anders als im zivilen Berufsalltag kann bei der Armee jeder Fehler den Tod bedeuten. 119 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind bislang bei Auslandseinsätzen ums Leben gekommen.

Dessen ist sich auch Oberstleutnant Andreas bewusst. Zu DDR-Zeiten erlebte der Militärpilot den Kalten Krieg. Heute fliegt er die Awacs-Aufklärungsmaschinen von Geilenkirchen bei Aachen aus an die „vorderste Linie“, wie er die östliche Nato-Grenzregion nennt. Die Kinder, sagt er, würden vor Einsätzen inzwischen „besonders lieb tschüss sagen“.

Am Freitagnachmittag entscheidet bei der Bundeswehr keiner mehr etwas

Auch auf Deutschlands größtem Kriegsschiff, dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“, wurde für die Doku gedreht. Fregattenkapitän Eike Deußen erinnert daran, dass man bis vor Kurzem noch den russischen Schiffen im Vorbeifahren zugewunken habe. Doch die Zeiten des „freundschaftlichen Verhältnisses“ seien seit dem Angriff auf die Ukraine „natürlich passé“: „Wir wissen nicht, wie die Russen reagieren. Wir gehen schon davon aus, dass wir beobachtet werden von den russischen Schiffen.“

Womöglich wurde dann auch entdeckt, dass die „Bonn“ wegen eines Defekts an der Antriebswelle just zur Dreh-Visite nur mit halber Kraft fahren konnte. Unklar ist, in welches Dock das Schiff zur Reparatur einlaufen soll. Die Durchsage an Bord klingt leider mehr nach Amtsschimmel als nach Zeitenwende: „Wir sind alle lange genug bei der Bundeswehr, um zu wissen, dass die Entscheidung darüber an einem Freitagnachmittag garantiert keiner fällt.“

„Zeitenwende Hautnah: Ein Jahr mit Soldaten“ läuft am Montag, 25. November, 0.05 Uhr, im Ersten und ist schon vorab in der ARD-Mediethek zu sehen. (tsch)