Russlands Angriffskrieg in der Ukraine drängt viele Menschen zur Flucht. Die Solidarität in den Nachbarländern ist riesig, doch wird nach Ansicht von Gerald Knaus nicht ausreichen.
Markus LanzSoziologe mit Ausblick – bald halbe Million Ukraine-Flüchtende allein in NRW?
Während in ihrer Heimat Raketen niedergehen und ihre Verwandten zur Waffe greifen müssen, fliehen aktuell Millionen von Menschen aus der Ukraine, viele in den Westen. Am Donnerstag (17. März 2022) äußerte sich der Soziologe Gerald Knaus im ZDF-Talk „Markus Lanz“ zur aktuellen Flüchtenden-Lage in Deutschland und Europa.
Seine Forderung: eine Umverteilung der Geflüchteten – und eine Luftbrücke.
„Markus Lanz“: Experte zeigt Dimensionen der Ukraine-Flüchtenden auf
Knaus glaubt, dass erst in den letzten Tagen allen in Deutschland und Österreich bewusst geworden sei, was für eine „unglaubliche Herausforderung“ das sei. Eine Million Menschen sei allein in den letzten drei Wochen geflüchtet. „Und es könnten bis Ende dieses Monats nochmals drei Millionen werden.“
Der Migrationsforscher hob jedoch die Hilfe der Zivilbevölkerung hervor. „Das, was bis jetzt geklappt hat, war tatsächlich diese unglaubliche Solidarität.“ Ukrainerinnen und Ukrainer seien etwa in Polen oder Moldawien – „im ärmsten Land Europas“ – von Menschen aufgenommen worden. Doch „wenn jetzt zwei Millionen mehr kommen in den nächsten zwei Wochen, dann können wir uns nicht darauf verlassen, dass die in Polen oder Moldawien von der Zivilbevölkerung aufgegriffen werden“.
Diese Geflüchteten müssten dann an andere Orte reisen, und wenn diese in die Züge steigen würden, „dann sieht es in Berlin und Wien bald so aus wie jetzt in Warschau“. In der polnischen Hauptstadt würden Geflüchtete bereits 15 Prozent ausmachen.
„Markus Lanz“: Eine halbe Million Geflüchtete allein in NRW?
Dann führte Knaus ein Rechenbeispiel an: Österreich würde laut Innenministerium 200.000 Menschen erwarten. „Rechnen Sie mal hoch, was das für Deutschland bedeutet.“ Alleine das Land Nordrhein-Westfalen habe zweieinhalbmal so viele Einwohner. „Dann wäre das eine halbe Million in naher Zukunft in Nordrhein-Westfalen.“
Dabei machte sich Knaus eher weniger Sorgen, dass die Organisation in Deutschland nicht gelinge. „Aber in Europa?“ In Spanien bereite man sich auf gerade mal 18.000 Geflüchtete vor, in den Niederlanden wolle man erst in zwei, drei Wochen diskutieren. Dabei werde nun eine Luftbrücke benötigt, die mindestens eine Million Menschen nach Spanien, Frankreich, Portugal, Irland oder Großbritannien bringe. Knaus forderte umgehend einen Koordinator auf politischer Ebene.
In Brüssel herrsche das Gefühl immer noch vor, keine organisierte Umverteilung zu brauchen, weil die Leute sich von selbst bewegen. Dies sei „extrem gefährlich“. Denn der gute Wille „lebt natürlich auch von dem Gefühl, dass die Situation nicht außer Kontrolle gerät“, erklärte der Soziologe.
„Markus Lanz“: „Logistik mit Empathie verbinden“
Wie es möglicherweise geht, zeigt Großbritannien. Dort habe der Druck aus der Bevölkerung die Regierung dazu bewogen, die Aufnahme von Ukrainern und Ukrainerinnen durch britische Familien zuzulassen und sogar mit 350 Pfund (etwa 400 Euro) im Monat zu entlohnen: Innerhalb eines Tages hätten sich 80.000 Menschen gemeldet, so Knaus.
Jetzt komme es darauf an, die Organisation herzustellen, „die Logistik mit der Empathie“ zu verbinden und politische Signale zu senden. Es gelte nun, eine „humane Aufnahme“ für die Geflüchteten zu gewährleisten. Dafür müsse man „mobilisieren auf eine Art, wie wir sie seit 1948 bei der Berliner Luftbrücke nicht gesehen haben“. (tsch)