„Markus Lanz“Zwei Wochen auf TikTok? Lehrer hat in ZDF-Talk speziellen Rat für seine Kollegschaft

Die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 stellen Deutschland ein Armutszeugnis aus. Doch die schlechten Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen sind nicht die einzigen Herausforderungen des Schulsystems, wie sich bei Markus Lanz am Mittwochabend deutlich zeigte.

Drei von zehn Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren in Deutschland haben die Rechenkenntnisse von Grundschülern. 25 Prozent können nicht sinnentnehmend lesen: Die Ergebnisse von PISA 2022 liegen so schlecht wie beim „PISA-Schock“ im Jahr 2000. „Vielleicht sogar noch schlechter“, fügte Olaf Köller, Bildungsforscher vom IPN Leibniz-Institut hinzu, „zudem gab es einen deutlichen Rückgang in der Motivation“.

„So richtig motiviert war ich auch nicht“, hatte Moderator Markus Lanz einen müden Scherz auf Lager. Denn zum Lachen war ihm angesichts des Themas in seiner letzten Talkshow vor der Weihnachtspause am Mittwoch sichtlich wenig zumute. Zu anstrengend und intensiv war die Suche nach dem Warum dieses nicht-genügenden Ergebnisses.

Für 40 Prozent hätten die Aufgaben nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun. Sie fühlten sich nicht abgeholt, zitierte Köller aus weiterer Forschung und empfahl: „Die Kunst ist, aus den Augen der Kinder zu unterrichten, nicht aus der der Erwachsenen.“

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Lehrer Bob Blume: „Ich plädiere dafür, dass Lehrkräfte zwei Wochen lang auf TikTok verbringen“

Genau diese Augen sind aber vermehrt auf Handy, Tablet und Co. gerichtet, verwies Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten und Digitalbotschafterin Niedersachsens: „71, 5 Stunden der Woche werden online verbracht“, hätte die „Jugend-Digitalstudie 2024“ ergeben. Das entspricht fast drei vollen Tagen im Netz. Eine Lebensrealität, auf die Lehrkräfte in ihrer Ausbildung nicht vorbereitet würden.

„Ich plädiere dafür, dass Lehrkräfte zwei Wochen lang auf TikTok verbringen“, hatte Bob Blume, Lehrer und Podcaster, dafür eine Lösung. Denn um die Lebenswelten der Schüler zu verstehen, müsste man sich mit diesen Medien beschäftigen. Allerdings steckten Lehrende so in einer Überforderungsspirale, dass sie sich lieber an dem festhielten, was sie die letzten Jahre gemacht hätten.

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Dass man auch mit „Althergebrachtem“ einen Lebensweltbezug zu seinen Schülern und Schülerinnen herstellen könnte, bewies Steffen Sibler, Leiter einer Brennpunkt-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. „In der 6. Klasse unterrichte ich Bruchrechnung und bringe dafür Schokolade mit“, berichtete er, „darauf sprechen mich die Kinder monatelang an“. Eine Reaktion, die er sich auch für andere Bereiche und Fächer wünschen würde.

Positive Geschichten wie diese zu erzählen und von den Erfolgen zu berichten, war dem Pädagogen wichtig. Dennoch wären gerade in seiner Schule, die sich in einem der ärmsten Einzugsgebiete der Stadt Berlin befände, große Herausforderungen da.

So wäre es schwierig fürs Deutschlernen, wenn es in der Klasse kein gleichaltriges Sprachvorbild gäbe: „Von wem sollen es die Kinder lernen?“ Außerdem hätten Schüler zunehmend mehr fein- und grobmotorische Herausforderungen, wären häufig adipös, hätten sozial-emotionale Themen und Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle.

„Wir haben seit 10 Jahren versäumt, uns wirklich um die zu kümmern, die immer mehr werden und die es besonders schwer im System haben“,

Was Sibler aus der Praxis berichtete, untermauerte Müller mit Zahlen - und zückte als „brave Lehrerin in einer Bildungssendung“ ihren Spickzettel: Ein Fünftel aller Kinder leiden laut Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS) des Robert Koch-Instituts unter psychologischen Auffälligkeiten. Gemäß COPSY-Studie (Anm.: Corona und Psyche) berichteten 71 % aller 7 - 17-Jährigen von Einsamkeit, 21 % von einer geminderten Lebensqualität. 30 % der Kinder sehen belastende Inhalte auf Social Media.

Zudem hätten im letzten Monat 58 Prozent der 12 - 19-Jährigen Fake News gelesen, 51 % beleidigende Kommentare, 41 % radikale politische Ansichten, 40 % Verschwörungstheorien, 39 % Hassbotschaften, 30 % pornografische Inhalte und 30 % wären sexuell belästigt worden. „Wenn laut ICLE-Studie (Anm.: Eine Art Computer-PISA) 40 % der Kinder in der 8. Klasse nichts Anderes können als wischen, dann wird mir echt schlecht“, hielt sie ihre Emotionen nicht verborgen, „dann frage ich mich, wie reagieren wir im Schul- und Bildungssystem auf die Not dieser Kinder?“

Es handelte sich um keine neuen Probleme, zeigte sich Olaf Köller unbeeindruckt. „Wir haben seit zehn Jahren versäumt, uns wirklich um die zu kümmern, die immer mehr werden und die es besonders schwer im System haben“, bezog er sich vor allem auf armutsgefährdete Schüler – beispielsweise solche, die Deutsch nicht als Muttersprache hätten.

Bob Blume: „Die Grundsatzdebatte, wie wir Bildung in Deutschland gestalten, findet nicht statt“

Es sind Kinder, die in Steffen Siblers Grundschule in Berlin-Kreuzberg zu finden sind. „Da unsere Schule in einem der ärmsten Einzugsgebiete der Stadt ist, haben wir schon jetzt zusätzliche Ressourcen“, meinte er. Als Teil des Startchancen-Programms würde die Schule durch die Bundesregierung gefördert werden.

Zumindest im Moment: „Kontinuität ist wichtig. Wir bauen auf, stellen tolle Leute ein, starten tolle Projekte und die müssen aber auch mittel- und langfristig erhalten bleiben“, plädierte er für langfristige Lösungen und weitere finanzielle Mittel. Das hätte auch Köller in einem Interview gefordert, zitierte er den anwesenden Bildungsforscher. „Ein kluger Mann, kann ich nur sagen“, brachte er damit eben diesen zum Schmunzeln.

Bedarf an Maßnahmen und Engagement ortete auch Blume. Auf einen Schulpsychologen kämen seines Wissens nach 7.000 Schülerinnen und Schüler. „Wir haben 50.000 Schüler im Jahr, die ohne Abschluss die Schule verlassen und ins Sozialsystem gehen, 85.000 fehlende Lehrkräfte, Investitionsstau von 75 Millionen Euro, Schulgebäude zerfallen und Lehrer, die immer mehr machen müssen“, zählte er die Herausforderungen auf, aber: „Die Grundsatzdebatte, wie wir Bildung in Deutschland gestalten, findet nicht statt.“

Ganz so düster möchte Müller das nicht sehen: Um die Probleme zu lösen, müssten sich alle der Verantwortung stellen – Elternhäuser, Schule, Politiker, aber auch Medien. Letztere müssten „endlich mal über Bildung pur berichten, wie der Ist-Stand da ist“ – so wie es an diesem Abend passiert wäre, lobte sie. (tsch)