„Fünf Briefe an Merkel geschrieben“ Afghanistan-Soldat sorgt bei Lanz für Fassungslosigkeit

Fünf Briefe an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben": Bundeswehrhauptmann Marcus Grotian, Initiator und Gründer des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte e.V., prägte die "Markus Lanz"-Sendung vom Donnerstag.
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Marcus Grotians Ausführungen zur Lage in Afghanistan sorgte bei vielen Lanz-Zuschauern für Kopfschütteln.

„Fünf Briefe an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben“: Bundeswehrhauptmann Marcus Grotian, Initiator und Gründer des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte e.V., prägte die „Markus Lanz“-Sendung vom Donnerstag.

Es mag stimmen, dass die Sicherheit der Bundesrepublik 20 Jahre lang auch am Hindukusch verteidigt wurde, wie es der damalige Verteidigungsminister Peter Struck einst formuliert hat. Über den Wahrheitsgehalt jener Worte wurde zuletzt ja wieder vermehrt diskutiert. Was Deutschland in Afghanistan, zumindest am Ende des Bundeswehreinsatzes, hingegen ohne jede Frage massiv verloren hat, sind Ansehen und Würde.

Wer dem Bundeswehrhauptmann Marcus Grotian am Donnerstagabend (27. August) bei „Markus Lanz“ zugehört hat, kann zu keinem anderen Schluss kommen: Viel zu viele sogenannte „Ortshelfer“ und ihre Angehörigen seien beim Abzug im Stich gelassen worden. Obwohl seit Längerem auf die drohende Zuspitzung der Lage auch in Kabul hingewiesen worden sei, hätten die Entscheidungsträger nicht auf Warnungen reagiert und bis zuletzt an aufwendigen bürokratischen Verfahren festgehalten, die für viele eine rechtzeitige Evakuierung unmöglich gemacht hätten.

Grotian, Initiator und Gründer des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte e.V., hatte der Bundesregierung bei einem denkwürdigen Auftritt auf der Bundespressekonferenz schon vor einigen Tagen nicht weniger als unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen und „ein Fiasko und Desaster in einem unvorstellbaren Ausmaß“ beklagt.

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„Wir sind moralisch verletzt“, hatte Grotian über die Stimmung unter den Veteranen am Ende der Afghanistan-Mission gesagt - nicht vom Vorgehen der Taliban, sondern von der deutschen Regierung. Im ZDF-Talk von Markus Lanz legte der Offizier nun in präzisem und betont sachlichem Vortrag nach.

Migrationsforscher bei Markus Lanz: „Hier läuft was ganz, ganz schief“

Zum einen machte Grotian bei Lanz deutlich, welche Funktionen diese afghanischen Ortshelfer für den Einsatz vor Ort hatten ("Ohne sie können wir nichts bewirken"), zum anderen schilderte er eindrücklich, auf welche offensichtliche Ignoranz lagekundige Mahner wie er zuletzt mithin prallten. So habe er bereits im Mai die Bundesregierung aufgefordert, die Ortshelfer in Kabul nicht im Stich zu lassen.

Ab Anfang Juni habe er insgesamt fünf Briefe an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben, in denen er auf die Situation aufmerksam machte - ohne Resonanz. Nicht der einzige Moment, in dem man als Zuschauer den Kopf schütteln musste, auch die aktuelle Debatte über die Zahlen der zu evakuierenden afghanischen Helfer macht fassungslos: Während die Regierung aktuell von 2.500 Ortskräften inklusive Angehörigen ausgeht, sprach Grotian von rund 10.000 Menschen, die als Ortshelfer und Angehörige hätten gerettet werden müssen.

Auch der Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus sprach von einem Brief: einem Brandbrief, der von hohen Bundeswehrangehörigen und anderen Afghanistan-Experten verfasst und Mitte Mai im „Spiegel“ veröffentlicht worden war. Tenor: „Hier läuft was ganz, ganz schief.“ Er sei sich sicher gewesen, dass so ein Brief Reaktionen auslösen würde - auch, „weil man eine moralische Verpflichtung hat“. Doch Fehlanzeige.

Insbesondere dem Innenministerium warf Knaus nun einen „völlig falschen“ Fokus vor. Schließlich habe Horst Seehofer noch kurz, bevor die US-Regierung das Ende ihrer Mission für den 31. August ankündigte, Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abschieben wollen. „Was war die Analyse? War es einem egal?“, tadelte Knaus. Seine Kritik ging jedoch noch deutlich tiefer: „Viele Grenzen sind für Flüchtlinge heute verschlossen“, konstatierte der Migrationsforscher. Manchen europäischen Ländern sprach er „jedes Zeichen von Humanität“ ab, aber er sähe in Deutschland immerhin auch „eine neue Welle der Empathie“.

Strack-Zimmermann: „Komplette Verantwortungsdiffusion“

Von einer „kompletten Verantwortungsdiffusion“ sprach in der Lanz-Sendung FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Luise Strack-Zimmermann, die für die kritische politische Einordnung des Geschehens zuständig war. Außenminister Heiko Maas (SPD) warf sie Missmanagement vor, und die Kanzlerin habe „sich nie für Afghanistan interessiert“. Besonders hart ging sie mit dem Innenminister Horst Seehofer und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (beide CSU) ins Gericht, die nach ihren Worten das Thema „Wir holen jetzt Flüchtlinge nach Deutschland“ offensichtlich aus dem Bundestagswahlkampf raushalten wollten.

Die Lanz-Sendung kam just am Tag, an dem die vorerst letzten Bundeswehrmaschinen in Kabul starteten und Bilder von einem furchtbaren Terroranschlag am Flughafen um die Welt gingen, zum denkbar brisantesten Zeitpunkt (allerdings war der Talk bereits am Nachmittag, also vor den Attentaten, aufgezeichnet worden).

Die Afghanistan-Mission ist aus deutscher Sicht zu Ende, Bundesaußenminister Heiko Maas erklärte bereits, dass zurückgelassene Ortshelfer nun nach Möglichkeit auf andere Art und Weise aus dem Land geholt werden sollen. Und das alles, nachdem führende Mitglieder der Unionsparteien zuletzt mantraartig den Satz, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, zu Protokoll gegeben hatten. Da hatte CDU-Politiker Tilman Kuban, Bundesvorsitzender der Jungen Union, bei Markus Lanz zwangsläufig einen schweren Stand.

Kubans Rechtfertigungsversuche konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Notwendigkeit einer späteren Aufarbeitung der Versäumnisse von Afghanistan und den Willen von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), sich selbst kritisch zu hinterfragen, sowie auf eine an dieser Stelle eher deplatziert wirkende Kurzanalyse der Folgen der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015.

Markus Lanz hofft auf Erhalt der Diskussionsfähigkeit

Er sprach von Flüchtlingen, die mit „14 Identitäten durchs Land laufen“, von überforderten Kommunen und brachte den Namen des Attentäters Anis Amri ins Spiel - was in der Runde für Kopfschütteln sorgte und ihm einen Rüffel von Markus Lanz bescherte: „Ich verstehe diesen Vergleich nicht. Da geht es doch um Leute, mit denen wir zusammengearbeitet haben!“ Kuban, der zwischen Verteidigung der eigenen, im Wahlkampfmodus befindlichen Partei und der Wucht der Offensichtlichkeit der Missstände in arge Argumentationsnot geriet, lenkte schließlich ein: „Die Ortshelfer sind ja unsere Freunde, denen müssen wir helfen.“

Zum Ende der Sendung konfrontierte Markus Lanz seinen Gast Marcus Grotian mit einem von ihm, Grotian, selbst stammenden Zitat: „Als Hauptmann weiß nicht nicht mehr, wie ich morgens in den Spiegel schauen soll, wenn ich meine Uniform anziehe.“

Grotian ließ durchblicken, dass er erst später über Konsequenzen für sich nachdenke und dass er gerade keinen ganz so leichten Stand bei „Menschen in der militärischen Hierachie“ habe. „Man hat mir durchaus schon aufgezeigt, dass meine Kommunikationsfreudigkeit in die Medien nicht das Schönste ist, was man empfindet.“

Lanz entgegnete, er vertraue darauf, dass man „diskussionsfähig“ bleibt. Keine Frage, das hochbrisante Thema des Auslandseinsatzes in Afghanistan wird dieses Land noch lange beschäftigen - an einer ehrlichen Aufarbeitung kommt auch der gewiefteste Wahlkampfstratege nicht mehr vorbei. (tsch)