Unterschätzt der Westen den russischen Präsidenten Wladimir Putin? In Talkshows kommen immer wieder Fachleute zu Wort, die meinen, er sei strategisch am Ende. US-Präsident Joe Biden sagte jüngst, dass Putin den Krieg bereits verloren habe. Ein Russland-Experte mahnt: Der Krieg könnte noch lange dauern.
Experte mit Klartext über Putin„Die Wahrheit über den Krieg sagen westliche Offizielle nur im Privaten“
Die Ukraine hat über 1,5 Milliarden Euro Militärhilfe von den westlichen Verbündeten erhalten. Das sagte der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow vor einigen Wochen. Leopard-Panzer, Patriots, die Ausbildung von ukrainischen Piloten an den modernen F-16 – all das soll Putins Armee in die Knie zwingen.
Mitte Juli trat US-Präsident Joe Biden in Helsinki vor die Presse, um klarzumachen: Die Ukraine werde der Nato beitreten, alles nur eine Frage der Zeit. Das aber könne erst nach dem Krieg geschehen. Doch, davon zeigte er sich überzeugt, Putin werde irgendwann zu dem Schluss kommen, es sei nicht im Interesse Russlands, den Krieg fortzusetzen. Den habe er, so meint Biden, bereits verloren. Er setze viele Hoffnungen in die ukrainische Gegenoffensive.
Experte über Russland: „Realität ist, dass Moskau an Maximalplänen festhält“
Und die kommt tatsächlich voran – wenn auch nicht in dem erhofften Tempo. Sowohl an der Frontlinie in Saporischschja als auch bei Bachmut rückt die ukrainische Armee vor. Im Süden wurde offenbar die erste Hauptverteidigungslinie erreicht. Gleichzeitig setzen ukrainische Drohnen der russischen Armee zu, greifen Häfen und Schiffe an.
Doch Russland passt sich an, hat sich auf die Offensive vorbereiten können und eingegraben. Riesige Felder voller Landminen machen es der ukrainischen Armee schwer, vorzudringen. Gleichzeitig hat Putin ein neues Gesetz verabschiedet, das es ihm ermöglicht, viele, viele weitere Soldaten zu rekrutieren.
Trotz empfindlicher Verluste hält Moskau fest an den Maximalplänen, erklärt nun der Russland-Experte Alexander Gabujew im Interview mit dem „Spiegel“. Er leitet das Carnegie Russia Eurasia Center, forscht zu russischer Außenpolitik. Er warnt davor, dass viele in westlichen Staaten einer Illusion anhängen, wenn sie glauben, Putin sei bereits erledigt.
Experte über Putin: „Neues Gesetz erlaubt ihm, so viele Männer zu rekrutieren, wie er will“
„Vor dem Krieg glaubten auch US-Geheimdienste, dass die ukrainische Armee einen russischen Angriff keinen Monat übersteht“, so Gabujew. „Dann gelangen ihr vergangenes Jahr große Gegenoffensiven, wie in Charkiw oder Cherson.“ Jetzt habe sich Russland angepasst. „Die Russen haben sich auf den Schlachtfeldern eingegraben. Und Russlands Bevölkerung ist viermal größer als die der Ukraine.“
Heißt: mehr Menschen, mehr Soldaten an der Front. Und der Präsident hat die Einberufung einfacher gemacht: „Das neue Gesetz erlaubt Putin, so viele Männer zu rekrutieren, wie er will. Sobald ein elektronischer Einberufungsbescheid im System eingeht, ist die Grenze für diese Menschen dicht.“
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Gleichzeitig stellt Russland die Wirtschaft voll auf die militärische Nachfrage um. Die Rüstungsindustrie arbeite rund um die Uhr, so Gabujew. „Natürlich können wir darüber lachen, dass die Russen jetzt sowjetische Panzer aus den Sechzigerjahren nutzen. Da gibt es gerade eine Lücke. Aber diese Lücke wird mit neueren Panzern gefüllt werden.“
„Das sagen westliche Offizielle nur im Privaten, um die Ukraine nicht zu entmutigen“
Der Experte denkt, dass die Gegenoffensive durchaus Erfolge erzielen werde. Sie werde aber wohl nicht ausreichen, um die russische Seite an den Verhandlungstisch zu bringen. „Russland wiederum braucht jetzt Zeit, um neue Soldaten zu rekrutieren und zu trainieren. Es läuft alles auf einen jahrelangen Abnutzungskrieg hinaus.“
In Gesprächen in Berlin, etwa mit dem Kanzleramt oder dem Außenministerium, habe Gabujew erfahren, dass die Lage auch dort ähnlich eingeschätzt werde, „viel realistischer“, meint der Russlandexperte. „Man stellt sich auf einen langen, schlimmen Konflikt ein. Aber das sagen westliche Offizielle nur im Privaten, um die Ukraine nicht zu entmutigen.“
Dennoch sei die Voraussetzung für ein möglichst gutes Szenario, dass der Westen am Ball bleibe. „Selbst wenn niemand in der Ukraine mehr getötet wird, darf die Unterstützung nicht nachlassen. Russlands Ressourcen sind kleiner als die eines vereinten Westens.“ Das Problem sei vielmehr der politische Wille.