Zwei Jahrzehnte lang glaubten westliche Politiker, den russischen Staatschef Wladimir Putin zu durchschauen - bis er die Ukraine überfiel. 2024 könnte er seine große Chance wittern.
Zwei Jahre Krieg in der UkrainePutin wittert 2024 seine große Chance: „Die Dynamik hat sich geändert“
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder nannte ihn einst einen „lupenreinen Demokraten“, der französische Präsident Emmanuel Macron plauderte stundenlang mit ihm in seiner Ferienresidenz, der ehemalige US-Präsident George W. Bush behauptete, in „seine Seele“ geblickt zu haben.
Am 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskrieges, wurde endgültig klar: Putin ist nicht der internationale Partner, als den viele im Westen ihn gerne sahen. Der Freund wurde zum Geächteten.
Ukraine: Lage wendet sich inzwischen zugunsten Moskaus
Putin verfehlte zwar sein anfängliches Ziel, große ukrainische Städte noch im Winter 2022 in einer Blitzoffensive einzunehmen. Es gab danach sogar einige Rückschläge.Doch inzwischen hat sich die Lage wieder zugunsten Moskaus gewendet. Die russischen Truppen wehrten die Gegenoffensive der Ukrainer vergangenes Jahr ab und kontrollieren inzwischen wichtige Gebiete im Süden und Osten des Landes.
„Putin ist zuversichtlich, dass er den Westen besiegen kann, und deshalb müssen wir entschlossen handeln und ihm beweisen, dass er falsch liegt“, warnt ein ranghoher westlicher Vertreter, der anonym bleiben möchte.
Der Kremlchef zeigte sich in jüngster Zeit zunehmend optimistisch. Die Ukraine „hat keine Zukunft“, prophezeite er im Dezember. Und in einem vergangene Woche ausgestrahlten Interview mit dem umstrittenen ultrarechten US-Talkmaster Tucker Carlson erklärte Putin, eine strategische Niederlage Russlands sei „per Definition unmöglich“.
Westen kontert: Niederlage Russlands einzige Option
Eine Niederlage Russlands in der Ukraine sei die einzige Option, konterten Staats- und Regierungschefs aus dem Westen. Europas Priorität müsse sein, „Russland nicht gewinnen zu lassen“, hatte Macron schon im Januar gesagt. Und auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wiederholt seit Monaten gebetsmühlenartig: „Russland muss scheitern mit dem Versuch, sich mit Gewalt seinen Nachbarstaat einzuverleiben.“
Fachleute sind jedoch der Ansicht, dass dieses Ziel nur erreicht werden kann, wenn der Westen seine Unterstützung für die Ukraine, der die Munition ausgeht, deutlich erhöht.
USA könnte als größter Unterstützer ausfallen
Diese Unterstützung ist jedoch nicht garantiert: Das von den Republikanern dominierte Repräsentantenhaus könnte das neue US-Hilfspaket für die Ukraine scheitern lassen. Wird der Rechtspopulist Donald Trump im November erneut zum US-Präsidenten gewählt, kann sich Kyjiw nicht mehr auf Beistand aus Washington verlassen. Und Europa ist in der Frage der Unterstützung für den überfallenen Nachbarn gespalten.
„Beide Seiten liefern sich ein Wettrennen, ihre Offensivkapazitäten wieder aufzubauen“, sagt Andrea Kendall Taylor von der Denkfabrik Center for New American Security in Washington. „Wenn die westlichen Finanzmittel ausbleiben, hat Russland die Möglichkeit, weitere Gewinne zu erzielen. Die Dynamik hat sich geändert, aus Putins Sicht wird 2024 ein entscheidendes Jahr.“
Mögliche Trump-Rückkehr für die Ukraine beunruhigend
Die Aussicht auf eine Rückkehr von Trump ins Weiße Haus ist für die Ukraine beunruhigend. 2023 hatte er erklärt, als Präsident würde er diesen Krieg „in einem Tag, in 24 Stunden beenden“. Auch die erstarkenden rechtsextremen Parteien in Deutschland und Frankreich vertreten eine weichere, oft anbiedernde Linie gegenüber Russland.
Putin sehe 2024 als Chance, den Verlauf des Krieges zu seinen Gunsten zu wenden, sagt Tatiana Stanovaya, Gründerin des Beratungsunternehmens R. Politik. „Er rechnet mit einer vorübergehenden Lücke in der westlichen militärischen Unterstützung, da die Munitionsproduktion erst Anfang 2025 wieder hochgefahren werden soll“, schreibt sie auf ihrem Telegram-Kanal.
Außerdem könnte die US-Unterstützung schon im Vorfeld der Wahl bröckeln. „Und es ist unwahrscheinlich, dass die von internen Unstimmigkeiten geplagte Europäische Union diese Unterstützung allein ausgleichen wird“, ist Stanovaya überzeugt.
Anlass für Optimismus hingegen liefert die innenpolitische Schwäche Russlands: Die Wirtschaft liegt darnieder, die Bevölkerung schrumpft, und nach zwei Jahren sind immer mehr Menschen kriegsmüde, vor allem angesichts der vielen Gefallenen. Westlichen Schätzungen zufolge wurden bisher etwa 350.000 russische Soldaten getötet oder verletzt. Der anonyme westliche Vertreter schlussfolgert: Es gibt Dinge, die für Putin „wirklich Anlass zur Sorge sein sollten“ .