Georgina Kellermann: Eine Journalistin, die als Mann Karriere machte und mit über 60 den Mut hatte, sich öffentlich zu dem zu bekennen, was sie fühlt: eine Frau zu sein. Ein berührendes Gespräch.
Nach 40 Jahren DoppellebenTransfrau Georgine Kellermann: „Den Georg gibt es nicht mehr“
Ein Doppelleben, über vier Jahrzehnte lang: Georgine Kellermann (66) hatte als Georg Kellermann eine Traumkarriere hingelegt: Nach dem Start bei der Tageszeitung wurde sie WDR-Korrespondent in Washington und Paris, leitete Studios. Im Beruf verheimlichte sie ihr Frau-Sein, während sie im privaten Kleiderschrank überall ihre Frauensachen dabeihatte.
Wie sie das alles selbst erlebt hat, was es mit ihr gemacht hat, erzählt sie in ihrer Autobiografie „Georgine – der lange Weg zu mir selbst“ (Ullstein Verlag, 22,99 Euro) – und hier im großen Gespräch mit EXPRESS.de.
Georgine Kellermann: Mein Vater machte mir ein Wahnsinns-Angebot
Wann war Ihnen bewusst, dass Sie ein Mädchen im Körper eines Jungen sind?
Georgine Kellermann: Einen festen Termin gibt es nicht, das ging nicht von heute auf morgen. Ich wusste, dass da was mit mir war, konnte es aber nicht klar definieren. Was kein Wunder war, in den 70er Jahren hat man über Menschen wie mich noch nichts gewusst. Und genauso wie die Gesellschaft nichts darüber wusste, wusste ich auch nichts darüber – nur, dass da was anders ist.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie mit zehn oder elf Jahren in die Kleider Ihrer Mutter geschlüpft sind, wenn Sie allein zu Hause waren …
Georgine Kellermann: Ja, bereits vor der Pubertät wurde mir klar, dass ich in der falschen Verpackung steckte. Ich schaute mich immer öfter im Kleiderschrank meiner Mutter um und machte in ihren Kleidern meine ersten Erfahrungen als Mädchen. Bis meine Geschwister mich so entdeckten, als sie mal früher nach Hause kamen und es am Abendbrottisch meinen Eltern erzählten.
Wie haben die Eltern reagiert? Waren Sie entsetzt, erbost, enttäuscht?
Georgine Kellermann: Nichts davon. Meine Mutter verbrannte die Sachen, die ich getragen hatte, sofort im Küchenherd. Was sie gesagt hat, weiß ich nicht mehr, aber ich dachte, sie sei wütend mit mir. Erst viel später wurde mir klar, dass es keine Wut war, sondern dass sie mich nicht verstanden hatte. Das Thema „Trans“ gab es ja in der Gesellschaft noch nicht. Woher sollte sie es wissen?
Und Ihr Vater?
Georgine Kellermann: Ich bin danach weinend in unser Jungszimmer gerannt, wollte mich im Bett verstecken. Vater kam nach, setzte sich auf die Bettkante und sagte: Wenn du reden möchtest, können wir reden! Doch es war mir unmöglich, vor ihm mein Innerstes nach außen zu kehren. Also habe ich nichts gesagt. Ich hatte zwar Vertrauen zu ihm, aber so weit, dass ich ihm alles erzählte, ging es nicht. Später wurde mir klar, dass es für einen Mann seiner Zeit ein Wahnsinns-Angebot war.
Wie ging es danach weiter?
Georgine Kellermann: Als wäre nichts gewesen. Das Thema gab es schon am nächsten Tag nicht mehr.
Manchmal macht man bei einem Rückblick auf sein Leben ja auch Schubladen im Innern auf, die man eigentlich doch gern verschlossen halten möchte. Wie war es bei Ihnen, als Sie das Buch geschrieben haben?
Georgine Kellermann: Bei mir war es anders, mir hat der Rückblick unendlich gutgetan. Beim Kramen in der Vergangenheit sind mir viele Geschichten in Erinnerung gekommen, die vollkommen in den Hintergrund getreten waren, und keine war dabei, die ich noch einmal vergessen möchte. Das gilt auch für Erlebnisse, bei denen man gemeinhin sagt, dass man sie nicht mehr haben muss.
Nicht mal den Gedanken gehabt: Wie schade, dass ich nicht schon früher als Frau gelebt habe?
Georgine Kellermann: Ich blicke nicht im Groll zurück, dieser Georg hat beruflich ein ziemlich geniales Leben gehabt. Das hätte ich nicht gelebt, wenn ich früh die hätte sein können, die ich war.
Sie sind als Georg zu einem erfolgreichen ARD-Journalisten geworden, waren rund um die Welt im Einsatz, haben Studios geleitet und das Morgenmagazin mit aufgebaut. Wo war Georgine in der Zeit?
Georgine Kellermann: Sie war immer dabei. Beruflich war ich ein Mann, privat eine Frau. Das war mein persönliches Arrangement – ich sah keine Möglichkeit, ohne dies zu existieren.
Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Georgine schon damals die Oberhand gehabt hätte?
Georgine Kellermann: Keine Ahnung. Ich möchte da auch nicht so weit drüber nachdenken – vielleicht gerate ich dann doch in Panik. Beim damaligen gesellschaftlichen Umfeld wäre ich sicher nicht Reporterin und Korrespondentin bei der ARD geworden. Das hätte nicht mal 2010 geklappt.
Wäre es heute einfacher?
Georgine Kellermann: Ich bin mir da nicht sicher, obwohl ich glaube, dass wir sehr viel weiter sind. Ich weiß nur, dass viele meiner Schwestern von staatlichen Zuwendungen, früher Sozialhilfe, heute Bürgergeld, lebten oder leben. Manche haben ihrem Leben ein Ende gesetzt, weil sie gesellschaftlich nicht anerkannt wurden, weil man sie gemobbt hat.
Wo ist Georg heute? Irgendwie ganz in Ihrem Innern versteckt?
Georgine Kellermann: Den Georg gibt es nicht mehr, der ist für immer verschwunden.
Es gibt die Arbeiten, die Sie abgeliefert haben und seinen Namen tragen, es gibt Fotos …
Georgine Kellermann: Wenn ich die sehe, erschrecke ich. Ich bin das nicht!
Georgine Kellermann über
Treten Sie in Ihren Träumen manchmal als Georg auf?
Georgine Kellermann: Gott sei Dank nicht! Ich denke, ich fühle, ich schmecke als Georgine.
Wir können uns vorstellen, dass bei Ihrem Coming-out die sozialen Medien eine große Rolle gespielt haben und immer noch spielen – positiv oder negativ?
Georgine Kellermann: Ohne die sozialen Medien wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Ich habe über sie sehr viele Menschen kennengelernt, auch viele, die Rat suchen. Ich bin ihnen dankbar, dass sie mir vieles erleichtert haben und ich durch sie schnell Unterstützer gefunden habe.
Aber es waren sicher nicht nur positive Meldungen …
Georgine Kellermann: Stimmt. Es gab natürlich auch ganz schlimme. Und nachdem Bodo Ramelow mal einem Hater, der ihm den Tod wünschte, geantwortet hat „Sie sind ein A...loch!“, habe ich es auch zweimal gemacht.
Haben Sie Angst, dass durch die Erstarkung der Rechten Schlimmes auf uns zukommt?
Georgine Kellermann: Ja, habe ich. Gerade hat mir jemand getwittert: „Wenn wir am Ruder sind, bist du auch deinen Geschlechtseintrag los.“ Ich glaube dennoch nicht, dass wir an einem Punkt sind, wo die Weimarer Republik damals war. Wir leben in einer viel aufgeklärteren Gesellschaft. Aber darauf wetten würde ich auch nicht: Man weiß nie, wie es hinter der Mauer aussieht, wenn man davor steht.
Denken Sie auch noch an eine Operation zur Geschlechtsangleichung, um männliche Merkmale verschwinden zu lassen?
Georgine Kellermann: Ich stelle mir diese Frage x-mal am Tag und habe x-mal eine andere Antwort. Ich glaube jetzt, es wäre falsch, es zu tun. Ich habe eine Höllenangst vor dem Skalpell und nicht mehr aus der Narkose aufzuwachen. Natürlich mag ich die männlichen Attribute meines Körper nicht, die gehören auch nicht zu mir. Doch der Name und der Personenstand sind geändert, ich bin als Frau anerkannt und werde als Frau wahrgenommen. Das andere ist für mich zweitrangig. Erstrangig ist, wie es mir mit mir geht. Und mir ging es mir noch nie so gut.
Was unterscheidet Georgine von Georg?
Georgine Kellermann: Ich war immer ein empathischer Mensch, bin aber noch empathischer geworden. Ich bin leichter geworden, mitfühlender, vertrauenswürdiger – und ich bin bei weitem nicht mehr so hart, wie ich es mal war.
Sind Sie heute der bunte Vogel von Ratingen?
Georgine Kellermann: Überhaupt nicht. Am Samstag nach der Ausstrahlung des Kölner Treffs, in dem ich zu Gast war, bin ich auf dem Markt von mir fremden Leuten angesprochen worden: „Ein wunderbarer Auftritt. Jetzt weiß ich endlich, wer Sie sind.“ Gegenüber meinem Haus ist ein Geschäft, das einer alevitischen Familie gehört. Ich habe dem Sohn der Familie gesagt: „Damit du es weißt, ich bin eine Frau!“ Er hat nur „Mega!“ geantwortet und nach hinten gerufen: „Du, Papa, das ist jetzt Frau Kellermann!“
Sie haben das Buch Ihrer Mutter gewidmet. Hat Sie es noch gelesen?
Georgine Kellermann: Leider nein. Ich bedauere das sehr. Es wäre mir das Allerwichtigste gewesen, wenn es so gewesen wäre, denn in unserem Leben war so vieles ungesagt oder halb gesagt oder nicht deutlich genug gesagt.
Georgine Kellermann: Privat trat sie als Frau auf, beruflich als Reporter
Georgine Kellermann (geboren als Georg Kellermann am 21. September 1957 in Ratingen) war schon vor dem Abitur als Reporter einer Tageszeitung unterwegs. 1983 dann WDR-„Aktuelle Stunde“, Regionalkorrespondent für Duisburg und den Niederrhein, 1992 ARD-„Morgenmagazin“-Korrespondent in Paris und Washington, 1997 ARD-Korrespondent in Washington, 2002 ARD-Korrespondent in Paris, 2006 dann ARD-Studio Bonn und 2014 WDR-Studioleiter in Duisburg und 2019 in Essen. Seit September 2023 im Ruhestand.
Während ihrer WDR-Zeit trat Georgine beruflich als Mann, im Bekanntenkreis aber als Frau auf. September 2019 dann das Coming-out als Transfrau (Transmenschen wurde bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen, das nicht ihrer Identität entspricht). Im September 2020 folgte die personenstandsrechtliche Registrierung als Frau. Georgine Kellermann lebt in Ratingen.