„Heute ist Jammern gesellschaftsfähig geworden“, glaubt Richard David Precht. In seinem gemeinsamen Podcast mit Markus Lanz geht der TV-Philosoph der Frage auf den Grund, weshalb sich viele Deutsche ständig in der Opferrolle sehen. Sein Rat: weniger Selbstmitleid, mehr Engagement.
„Seelische Verweichlichung“Precht rechnet im Podcast mit „weinerlichen“ Deutschen ab
Eigentlich sei es laut Markus Lanz „eine Qualität der Deutschen, sich ein bisschen zu quälen“. Der „deutsche Hang zum Nörgeln“, über den der ZDF-Talker und sein Kollege Richard David Precht in der aktuellen Ausgabe ihres Podcasts „Lanz & Precht“ sprechen, führe „häufig dazu, dass Dinge besser werden“. Nun jedoch habe der Pessimismus in der Bundesrepublik ein bedenkliches Ausmaß erreicht.
Markus Lanz berichtet von „einem Gefühl, das meiner Meinung nach mittlerweile so weit verbreitet ist: Man richtet sich ein in so einer Opfererzählung. Jeder hat heute irgendwie ein Trauma und ist an irgendeiner Stelle Opfer.“ Precht pflichtet ihm bei: „Ja, man darf sich heute gesellschaftlich leidtun.“ Diese Entwicklung sei neu, glaubt der Philosoph und Schriftsteller: „Heute ist Jammern gesellschaftsfähig geworden. Die Opferrolle ist die neue Heldenrolle.“
Richard David Precht: „Wenn du nicht Held sein kannst, kannst du immer noch Opfer sein“
Im Laufe der vergangenen Jahre sei es gesellschaftlicher Konses geworden, „dass Opfersein auch anerkannt werden muss, und zwar völlig zu Recht“, erklärt Precht. „Jeder von uns hat irgendwann mal Mist erlebt und irgendein Trauma.“ Dies gelte insbesondere für Altersgenossen der in den 1960er-Jahren geborenen Podcaster: „Wir gehören einer Generation an, in der fast alle Kinder zu Hause noch geschlagen wurden. In der Demütigungen auf dem Schulhof noch viel brutaler stattfinden konnten als heute, weil es kaum Aufsichtspersonal gab und man sagte: 'Reiß dich zusammen, ein Junge heult doch nicht.'“
Vielen Betroffenen sei erst in der jüngeren Vergangenheit bewusst geworden, dass sie „mit all diesen Sachen eigentlich auch eine Opfergeschichte“ hätten und „natürlich auch offene Ohren dafür“ fänden. Doch nicht alle „Opfergeschichten“ seien gleichermaßen tragisch und ernst, mahnt Precht.
„Aus der völlig richtigen und berechtigten und notwendigen Aufarbeitung realer Opfer fürchterlicher Verbrechen ist irgendwann ein sich immer weiter ausbreitender Kreis geworden, der jedem die Möglichkeit gibt, sich in irgendeiner Form als Opfer zu fühlen.“ Die Folge sei Precht zufolge eine bedenkliche Mentalität: „Wenn du nicht Held sein kannst, kannst du immer noch Opfer sein.“
Markus Lanz: „Jeder hat seine Diagnose“
„Jeder hat seine Diagnose“, stellt auch Lanz fest. Dies sei vor einigen Jahrzehnten noch nicht der Fall gewesen, weiß Precht: „Du kannst dich dann immer mit anderen zu einem Bier zusammenfinden und jammern, wie schlecht es dir geht.“ Es herrsche „ein anderer Zeitgeist als in den 50er-, 60er-Jahren“, resümiert er. „Nach den ganzen Fürchterlichkeiten des Krieges und auch der eigenen Täterschaft wollten die Menschen die Ärmel hochkrempeln, zupacken und aufbauen. Und das ist im Augenblick eben gar nicht die Mentalität.“
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Die weitverbreitete Mutlosigkeit innerhalb der Bevölkerung halte Precht für besorgniserregende Entwicklung. „Pessimismus ist seelische Verweichlichung“, stellt er klar. „Das ist Ängstlichkeit. Pessimismus hat grundsätzlich was Weinerliches.“ Die fehlende Hoffnung der Menschen sei häufig eine „Legitimierung gesellschaftlicher Passivität“, die wiederum verhindere, dass drängende Probleme angegangen würden. Sein Rat an alle Pessimisten: „Tu dir nicht so unendlich leid.“ (tsch)