Mit dem Länderspiel-Doppelpack gegen Israel und in den Niederlanden startete die deutsche Nationalmannschaft ins WM-Jahr. Reiner Calmund macht den Check: Wo steht die DFB-Elf acht Monate vor dem Turnier in Katar?
„Kein Freifahrtschein zum Titel“Fußball-Experte Calmund checkt die deutschen WM-Chancen in Katar
Der Start in das WM-Jahr hätte für die Truppe von Bundestrainer Hansi Flick definitiv schlechter laufen können: Gegen Israel konnte sich die deutsche Nationalmannschaft mit 2:0 durchsetzen, beim Spiel in Amsterdam gegen die Niederlande stand am Ende ein 1:1-Unentschieden.
Für EXPRESS.de durchforstete Fußball-Experte Reiner Calmund (73) schon vor den Partien gegen Israel und in den Niederlanden die Kader der Bundesliga-Vereine. Siehe da: Der Bundestrainer hat gar nicht so sehr die Qual der Wahl bei seinem Aufgebot für das Turnier in Katar.
„Wo steht die Bundesliga: Weltklasse? Internationale Klasse? Oder doch nur Durchschnitt?“, fragt sich Calmund. „Die FIFA hat weltweit 211 nationale Mitgliedsverbände, die Bundesliga belegt dabei mit Sicherheit Platz fünf bis zehn. Das bedeutet zumindest internationale Klasse, wobei man für das Prädikat Weltklasse nicht nur gute Vereins-Teams, sondern auch eine erfolgreiche Nationalmannschaft bei einer WM haben muss.“
Wichtig ist für die Bewertung der Bundesliga-Qualität vor allem, welche Rolle die Vereine in der Champions- beziehungsweise Europa-League gespielt haben. „In der Königsklasse konnte sich mit Bayern München nur ein deutsches Team für die K.o.-Runde qualifizieren. Das ist enttäuschend, allerdings auch kein Weltuntergang“, sagt das Ex-Leverkusen-Schwergewicht.
Interessant ist ein Blick in die Liste der größten Marktwerte der Bundesliga-Spieler, die international vertreten sind. Mit Joshua Kimmich, Leroy Sané, Leon Goretzka, Serge Gnabry, Florian Wirtz und Jamal Musiala finden sich einige deutsche Nationalspieler in der Top 10. Hinzu kommen die vier in England spielenden Kai Havertz, Timo Werner, Antonio Rüdiger und Ilkay Gündogan sowie die aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr so hoch einsortierten Manuel Neuer und Thomas Müller. Alle Akteure sind bei Flick gesetzt.
Reiner Calmund: Nur wenige deutsche Spieler unter den wertvollsten
Aber in der Breite wird es dünner. Unter den 176 wertvollsten Spielern mit mindestens 35 Millionen Euro Marktwert aus ganz Europa, die international im Einsatz sind, finden sich nur 20 Bundesliga-Spieler, sieben davon für Deutschland spielberechtigt. „Zusammen mit den England-Legionären und einigen Shooting-Stars wie Nico Schlotterbeck stehen Hansi Flick somit gerade einmal 13, 14 der wertvollsten international agierenden Spieler zur Verfügung“, zählt Calmund durch.
Und: Der frühere Bayer-Boss verweist auch noch auf die halbjährlich vom Magazin „Kicker“ erstellten Ranglisten. „Von den Top-30 Spielern haben es 14 Deutsche und 16 Ausländer in die Kategorien Weltklasse, internationale Klasse und nationale Klasse geschafft.“ Im Bereich Sturm oder Außenbahn schaffte es kein deutscher Akteur in eine der Wertungen.
Das ist Calmunds vermutlicher WM-Kader
- Sicher dabei (14): Joshua Kimmich, Florian Wirtz, Kai Havertz, Serge Gnabry, Leroy Sané, Leon Goretzka, Jamal Musiala, Timo Werner, Niklas Süle, Antonio Rüdiger, Ilkay Gündogan, Thomas Müller, Manuel Neuer, Marc-André ter Stegen
- Gute Chancen (14): Jonas Hofmann, Thilo Kehrer, Matthias Ginter, Nico Schlotterbeck, Jonathan Tah, Robin Gosens, Florian Neuhaus, Marco Reus, Julian Brandt, Kevin Volland, Julian Draxler, Karim Adeyemi, Bernd Leno, Kevin Trapp
„Mein vermutlicher WM-Kader ist ein Spiegelbild der Marktwert-Tabelle“, sagt Calmund. Sein ernüchterndes Fazit: „Hansi kann nicht aus dem Vollen schöpfen. Alle Jahre wieder rutscht mal eine Überraschung ins Team oder es verletzt sich jemand. Aber: In Sachen WM-Kader passiert im nächsten halben Jahr nichts Entscheidendes mehr.“
Der Blick auf die Marktwertliste zeigt, dass Flick schon jetzt alle hochkarätigen Spieler um sich schart – mehr Alternativen gibt es nicht. Daher ist Calmunds Urteil deutlich: „Einen Freifahrtschein zum Titel gibt es keineswegs. Das sollten alle beim typisch deutschen Größenwahn vor Turnieren bedenken. Vor den Fernsehern sitzen dann ja immer mehr Weltmeister als in jedem anderen Land. Auf dem Weg zum Turnier dürfen sich keine Spieler verletzen. Perspektivisch muss die Nachwuchsarbeit aber wieder dringend verbessert werden.“