Ein denkwürdiger Abend bei „Anne Will“: Christian Lindner und Norbert Röttgen chargierten im ARD-Talk zwischen Entschlossenheit und den Grenzen von Macht und Erkenntnis. Ein Historiker rechnete hart mit der Fernsehen guckenden jungen Generation ab - und mit der deutschen Linkspartei.
Ukraine-KriegHistoriker warnt bei „Anne Will“ vor düsterem Szenario: „Müssen auf alles gefasst sein“
Es war eine Szene mit unfreiwilligem Symbolcharakter - und es war Moderatorin Anne Will sichtlich unangenehm. Drei Versuche brauchte es, um den lettischen Staatspräsidenten Egils Levits am Sonntagabend im ARD-Talk akustisch zur Runde zuzuschalten. Der Mann, der sich als Oberbefehlshaber seiner Streitkräfte darauf einstellen muss, die Grenzen seines Landes und der NATO gegen den russischen Aggressor zu verteidigen, sollte zu Wort kommen. Es gelang nur mit Mühe.
Als der Präsident dann nicht nur zu sehen, sondern endlich auch zu hören war, sprach er angesichts der für ihn allzu nahen Bedrohungslage klar und besonnen. „Unsere Armee ist immer vorbereitet. Sie ist sehr professionell“, ließ er keine Verängstigung erkennen. Zwar habe man es „mit einem aggressiven Russland zu tun, das sein Imperium wiederherstellen will“.
Christian Lindner bei „Anne Will“: „Putin ist nicht mehr berechenbar“
Jedoch sei die NATO Russland militärisch überlegen. Außerdem sei es Putin gelungen, die überfallene Ukraine „zusammenzuschmieden“. Auch lobte das lettische Staatsoberhaupt die verhängten Wirtschaftssanktionen, insbesondere „das Einfrieren des Guthabens der russischen Zentralbank“. Egils Levits: „Das ist die Sprache, die Russland versteht.“
Finanzminister Christian Lindner wird es als Bestätigung vernommen haben. Ausgerechnet der FDP-Politiker hatte am Morgen im Bundestag ein massives Budget zur Stärkung der Bundeswehr in Aussicht gestellt - in Form eines Sondervermögens. „Wir werden die größten und schnellsten Steigerungen der Verteidigungsausgaben unserer jüngeren Geschichte auf den Weg bringen“, bekräftigte er bei „Anne Will“ die Epochenwende der deutschen Politik.
Gegenüber der eskalierenden Rhetorik des russischen Präsidenten zeigte sich Lindner einigermaßen ratlos. „Putin ist nicht mehr berechenbar“, kommentierte der Minister die Ankündigung vom Sonntag, die russischen Atomstreitkräfte würden in Alarmbereitschaft versetzt. Doch stellte er fest: „Wir sind geschlossen, in der NATO, in der EU und auch in der Mitte unserer parlamentarischen Demokratie. Das ist ein eindeutiges Signal an den Kreml.“
Ukraine-Krise: Kommt es zum atomaren Erstschlag der Russen?
Doch wie groß ist die Gefahr, dass es doch zum Äußersten kommt, zum atomaren Erstschlag der Russen? Viele besorgte Zuschauerfragen dazu hätten die Redaktion vorab erreicht, erklärte Anne Will. Zu verständlich und fraglos eingepreist im Versuch Putins, den Westen psychologisch zu destabilisieren. Ein Ansinnen, dem etwa der Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala im ARD-„Brennpunkt“ und den „Tagesthemen“ am gleichen Abend mit sachlicher Einordnung entgegentrat.
Nicht so der bei „Anne Will“ anwesende Historiker Karl Schlögel, der mit bebender Stimme kundtat, man müsse „auf alles gefasst“ sein. „Putin hat uns gezeigt, dass er uns Dinge bereitet, auf die wir nicht gefasst sind“, erklärte der Osteuropaexperte. „Ich hätte es mir nicht ausmalen können, dass er Kiew und Charkiw behandelt, wie er es mit Aleppo gemacht hat.“
Im eher assoziativen denn stringenten Vortrag prägte der Geschichtsprofessor den Ton dieses durchaus denkwürdigen ARD-Abends. Schlögel dachte laut über die „Internationalen Brigaden“ nach, die einst im Spanischen Bürgerkrieg für die Demokratie gekämpft hätten - etwas, das für die heutige Generation offenbar unvorstellbar sei: „Für uns sind ja der Krieg und die Gewalt eine Fernsehangelegenheit.“ So habe man es „nicht einmal fertiggebracht, im Vorfeld dieses Angriffs ein Putin-Tribunal auf die Beine zu stellen, wo man die Verbrechen dieses Mannes und seines Umfeldes darstellt!“
Anne Will: Historiker wütet: „In vielen Talkshow wurden Märchen erzählt“
Dann holte er aus zu Abrechnung mit der deutschen Linkspartei, die sich gewaschen hatte: „In vielen Talkshows sind Märchen erzählt worden!“ Er nannte namentlich die Linken-Politiker Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi, die bis vor Kurzem noch „Putin-Kitsch“ verbreitet hätten. Jetzt lichte sich der Nebel und es werde offenbar: „Wir sind nicht aufgestellt.“
Ein bemerkenswerter Vortrag, dem sich ein nicht weniger beeindruckender anschloss: Die Ukrainerin Ljudmyla Melnyk vom Institut für Europäische Politik forderte, eine Flugverbotszone über der Ukraine militärisch durchzusetzen. Ihr Argument: „Stellen wir uns vor, Putin würde ein Atomkraftwerk bombardieren! Atomare Katastrophen kennen keine Grenzen.“
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen würdigte ausführlich den Paradigmenwechsel der deutschen Politik und noch viel mehr den „Heldenmut der Ukrainer“. Und doch dämpfte er Hoffnungen. Trotz der Waffenlieferungen könne die Ukraine „langfristig möglicherweise nicht überleben“. Der Idee der Flugverbotszone erteilte er eine Absage: „Wir müssen verstehen: Wir sind angegriffen! Aber wir haben immer erklärt: Wir werden nicht Krieg führen.“ (tsch)