Einem jeden Recht getan, ist eine Kunst die niemand kann. Nicht mal Stefan Raab, „The Godfather of ESC“, wie ihn Moderatorin Barbara Schöneberger beim Halbfinale von „Chefsache ESC“ (RTL) nannte. Schöneberger fand alles „toll“. Aber die Fans im Internet nicht – vor allem nicht die Entscheidung über die neun Finalistinnen und Finalisten.
Raab entschuldigt sich bei AusgeschiedenenESC-Fans laufen Sturm gegen Jury-Entscheidungen
Man musste auf dem Instagram-Account von RTL.de lange scrollen, bis ein positiver Kommentar kam. Sonst waren da nur Breitseiten zu lesen: „Danke für nichts, Raab.“ - „Was für ein schwacher Vorentscheid“ - „Die Jury hat es verka..t!“ - „Wollte Deutschland den ESC jetzt doch nicht mehr gewinnen?“ - „Der Abend war ein einziges Desaster.“ Uiuiui.
Vielleicht hatte Stefan Raab so etwas geahnt. Denn vor der Verkündung der Jury-Entscheidung sagte er: „Wir müssen uns jetzt schon entschuldigen bei denen, die nicht weiterkommen.“
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Barbara Schöneberger (links) mit Abor & Tynna, nur einem von 14 Acts im Halbfinale von „Chefsache ESC“ (RTL), die die Moderatorin „ganz toll“ fand.
Fakt: Nächste Woche spielen (in alphabetischer Ordnung) Abor & Tynna, Benjamin Braatz, Cosby, Feuerschwanz, Julika, Leonora, Lyza, Moss Kena und The Great Leslie um die Ehre, Deutschland beim ESC-Finale in Basel zu vertreten. Dann entscheiden ausschließlich die Fans, die Jury (Yvonne Catterfeld, Elton, Stefan Raab und wahrscheinlich erneut ein Gast-Juror, im Halbfinale war's Max Giesinger) hat dann nichts mehr zu sagen. Geht's nach den Reaktionen bei Instagram, ist das den Fans ganz recht.
Kein ESC-Finale für From Fall To Spring, dafür ein Gig in Wacken
Aber: Selten war eine Musikshow so reich an unterschiedlichen Stilen. Crossover Hard Rock, Mittelalterrock, Ska-Punk-Rock, Elektro-Clubsound, Piano-Ballade, Jazzy-Pop, Bar-Mucke, Pop-Balladen. Eigentlich müsste man auch mal gönnen können und sagen: Das war eine ordentliche MIschung, die da kredenzt wurde. Und ausnahmslos von großartigen Talenten.
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14 bewarben sich, nur neun konnten das Finale erreichen. Stefan Raab: „Wir schmeißen niemanden raus, wir nehmen nur welche mit.“
Die Fans waren vor allem sauer, weil es eine Band nicht schaffte. From Fall To Spring hatten mit ihrem Crossover-Rock den Saal zum Beben gebracht. Vielleicht fehlte der Jury da ein bisschen der Mut. „Ihr seid viel zu gut für den ESC“, tröstete ein Fan in einem Kommentar.
Ein weiterer Trost dürfte der Brachial-Band um die beiden Zwillings-Shouter Philip und Lukas noch besser munden: Mittlerweile riefen die Booker vom „Wacken Open Sir“ an und luden das Sextett zum diesjährigen Festival ein. Das ist in der Szene sowieso wesentlich kredibler als die einst schlagerlastige Pop-Sause der Eurovision.
Barbara Schöneberger fand wieder alles und jeden „ganz toll“
Auf jeden Fall waren die 14 Halbfinalisten vielseitiger als Barbara Schöneberger. „Das war toll“, „Das hast du toll gemacht“, war ihre stereotype Lobhudelei nach quasi jedem Act.
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Singer-Songwriter Benjamin Braatz sorgte mit „Like You Love Me“ Sounds für die Lagerfeuerparty für Neo-Hippies.
Geht's danach, stand ihr persönlicher Favorit fest. Moss Kena. Den Mann mit der Neigung zum Entblößen der glattrasierten Brust lobte sie nämlich sogar mit: „Das war ganz, ganz toll.“ Toll.
Hier der Schnelldurchlauf – mit (subjektiver) Prognose für die Finalshow nächste Woche im Ersten:
Mit Feuerschwanz testete die Produktion gleich mal, wie es um die Statik im Kölner Studio beschaffen war. Mit dem brachialen, aber eingängigen „Knightclub“ brachten die Mittelalterrocker die Bude zum Wackeln.
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„I'm Still Here“ von Cosby ist Powersound mit Leib und Seele und Enotionen. Yvonne Catterfeld trieb es Tränen in die Augen.
Der Song ist sicher geil als Stadionrocker zum beseelten Mitgrölen. Auf der ESC-Bühne kann so was klappen (Lordi), kann aber auch fürchterlich missverstanden werden (Lord Of The Lost). Finalchancen: gering.
Benjamin Braatz bot Kontrastprogramm pur. Ein singender Lockenkopf, eine Gitarre, ein verspielt-verschrobener Song (“Like You Love Me“), perfekt fürs Lagerfeuer der Neo-Hippies in der Tradition von Leo Sayer, Ralph McTell oder Scott McKenzie (die Älteren werden sich erinnern) oder vielleicht gar für die Playlist von Max Giesinger. Aber für Basel? Finalchancen: sehr gering.
Pipi in den Augen: Yvonne Catterfeld von Cosby berührt
Cosby spielten sich bei „I'm Still Here“ echt den Hintern ab und Frontfrau Marie sang sich Herz und Seele aus dem Leib (der allerdings zu atemberaubenden Verrenkungen fähig ist). Große Gefühle, großer Song. Yvonne trieb's Pipi in die Augen! Finalchancen: gut.
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Feuerschwanz ließen mit „Knightclub“, jaulenden Gitarren, Pyro-Fontänen, Gegrowle und Falsett-Gekreisch die Wände wackeln.
Abor & Tynna boten mit „Baller“ eine clevere ESC-Kandidatur. Den Refrain „Baller-lalalala“ vergisst man nicht, das sah auch Raab so. Der moderne Elektroclubsound sei „zielgruppenmäßig der jüngste“, meinte der ESC-Zampano. Ideal für die „Generation TikTok“, befand Maxe Giesinger. Yvonne legte sich fest: „Das ist ein Hit.“ Und das trotz des eigentlich eher schwachen Gesangs. Finalchancen: ausgezeichnet.
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„Empress“, der Song von Julika, hat Soundtrack-Qualitäten.
Leonora bot mit „This Bliss“ einen „Gute-Laune-Song“, der aber eher in eine jazzige Musik-Bar passt. Ob der in ganz Europa genügend Punkte einfahren kann? Finalchancen: eher gering.
Lyza: Überirdische Performance mit großer Botschaft
Julika war mit „Empress“ eine echte Überraschung. Empress bedeutet Kaiserin, und die hier besungene ist definitiv eine düstere Monarchin. Der Song hat Soundtrack-Qualitäten, würde zum Beispiel zu der Grusel-Comedy-Serie „Wednesday“ passen, klang stellenweise auch nach „James Bond“.
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„This Bliss“ von Leonora hält Stefan Raab für einen „wirklich guten Song“. Kann sie Deutschland in Basel vertreten?
Raab attestierte „Glaubwürdigkeit 100 Prozent“. Die Nummer kann man sich auf einer ESC-Bühne richtig gut vorstellen. Finalchancen: gut.
Lyza sang zwar erst zum zweiten Mal auf einer „richtigen“ Bühne, aber sie ist clever – und klasse.
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Lyza zeigt mit „Lovers On Mars“ (bei ihrem zweiten Auftritt auf einer Bühne) eine überirdische, absolut ESC-taugliche Performance.
Ihr „Lovers On Mars“ ist absolut ESC-tauglich: Tolle Botschaft (Liebe ist stärker als alles), überirdische Performance (mit dem Universum als Backdrop), große Gesten, gute Stimme. Das könnte ein Euro-Hit werden. Finalchancen: ausgezeichnet.
Barbara Schöneberger wird wuschig: „Mein Gott, lasst mich zu diesem Mann“
Auch Moss Kena, der Brustkahle, besang mit „Nothing Can Stop Love“ die Kraft der Liebe. Er hatte ja schon einen Nummer-eins-Hit, er weiß wie's geht. Barbara Schöneberger hat er schon gecatcht: „Mein Gott, lasst mich zu diesem Mann“, hauchte sie nach der Performance.
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Auch Moss Kena besingt mit „Nothing Can Stop Love“ die Kraft der Liebe. Stefan Raab trieb es die Gänsehaut zwei Zentimeter hoch auf den Körper.
Raab gestand, er habe Gänsehaut gehabt, „zwei Zentimeter hoch“. Ja, dann. Halbe Miete, könnt man sagen. Aber: Hat Moss so viele Follower wie Lyza? Finalchancen: ordentlich.
The Great Leslie. Auch wenn es Sänger Ollie nicht gerne hört: Die Band erinnert tatsächlich nicht nur vom Aufbau (androgyn anmutender Sänger, Blondine am Bass), sondern auch vom Sound an Maneskin. Wofür man sich gerade beim ESC ja nicht eben schämen muss. Die Band vereint eigentlich in Leib und Sound den einigenden Gedanken des ESC: Zwei Briten, ein Deutscher und eine Norwegerin spielen britischen Ska-Punk-Pop mit funky Anleihen. Top-Mix! Finalchancen: solide.
Elton stößt alle Linkin-Park-Fans vor den Kopf
Nicht mehr dabei sind: Cloudy June hätte mit ihrem „If Jesus Saw What We Did Last Night“ auf jeden Fall textlich und auch vom lasziven Auftritt her für einige Unruhe in Basel gesorgt. Wird nicht leider dazu kommen.
Jaln ist raus, und womit? Mit Recht. Denn nur er empfand seinen Song als „Meisterwerk“. Max Giesinger (“Hat mich emotional nicht so gepackt“) und Stefan Raab (“Mit der Wiedererkennbarkeit tu ich mich schwer“) sahen es anders. Da war eigentlich schon klar, dass Jalns Final- und Basel-Traum geplatzt war.
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Mit „These Days“ boten The Great Leslie Internationalität: Zwei Briten, ein Deutscher und eine Norwegerin bringen Brit-Punk-Pop mit Maneskin-eskem Stakkato-Sound und multikultureller Spielfreude.
From Fall To Spring brachten die Halle zum Beben. Und Elton die Linkin-Park-Fans. Die beleidigte er, in dem er den Vergleich umdrehte: „Linkin Park sind der Ersatz für From Fall To Spring.“ Bei aller aufrichtigen Liebe zu FFTS: Das ist, als würde man, rein von der Dimension, ein Ei der Bienenelfe (erbsengroß!) mit einem Straußenei vergleichen. Ungeachtet dessen: FFTS werden ihren Weg machen.
Nächte Woche im Finale haben nur die Fans das Sagen
Jonathan Henrich, der Sohn von Kult-Komiker Olli Dittrich, brachte mit „Golden Child“ einen Song, in dem er den Songtitel zweimal unterbrachte. Nicht eben viel, wenn es um Wiedererkennbarkeit geht. Auch diese Piano-Pop-Ballade wäre vielleicht in einem Bar-Ambiente besser aufgehoben als im ESC-Hexenkessel von Basel.
Cage war gesundheitlich angeschlagen, aber das hörte man nicht. Ihr „Golden Hour“, die Titelwörter im Lied auch selten hörbar, bewies, dass sie „eine der talentiertesten Sängerinnen Deutschlands“ (O-Ton Stefan Raab) ist. Aber auch, dass der Song nicht so perfekt war wie die Stimme der Sängerin.
Stefan Raab machte klar, dass es nicht um persönlichen Geschmack ging. „Wir wollen gewinnen“, hob er hervor, und da ginge es nur darum zu entscheiden, welcher Künstler mit welchem Song die größten Chancen haben könnte, in Basel unter Umständen möglicherweise vielleicht zu gewinnen.
Wenn das aber so einfach wäre, dann hätten wir den ESC in den letzten 68 Jahren ja immer gewonnen. Vielleicht sind nächste Woche die Fans weiser als die Fachjuroren. (tsch)