EM-Finale 2024Eine Bitte an den Fußballgott: Diese Mannschaft darf nicht gewinnen

Dani Olmo (l.) und Jude Bellingham stehen sich am Sonntag (14. Juli 2024) im EM-Finale mit Spanien und England gegenüber.

Dani Olmo (l.) und Jude Bellingham stehen sich am Sonntag (14. Juli 2024) im EM-Finale mit Spanien und England gegenüber.

EM-Finale 2024, Spanien gegen England. Wenn man sich das Turnier der beiden Mannschaften anschaut, dann darf der Fußballgott am Sonntag ein Team nicht gewinnen lassen. Ein Kommentar.

von Volker Geissler  (vog)

Am Sonntag (14. Julu 2024, 21 Uhr/ARD und MagentaTV) ist es so weit: in Berlin steigt das Finale der EM 2024 zwischen Spanien und England. Der Fußballgott darf dann ein Team nicht gewinnen lassen, sagt unser Autor. Ein Kommentar.

Es begab sich im Jahr 2002. Deutschland hatte sich bei der WM in Japan und Südkorea irgendwie ins Finale gerumpelt. Mit einer Mannschaft, die gefühlt nur aus Oliver Kahn und Michael Ballack bestand.

Fußballgott sollte dafür sorgen, dass das schöne Spiel belohnt wird

Eine große englische Zeitung zeigte am Tag der Entscheidung den WM-Pokal und titelte: „Hands off!“ Frei übersetzt: Hände weg vom Pokal, ihr hässlich spielenden Deutschen!

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Den Ball können wir 22 Jahre später zurückspielen. Den Engländern bei diesem Turnier zuzuschauen, grenzte abgesehen vom Halbfinale teilweise an Psycho-Terror. Wie sie es geschafft haben, als menschliches Schlafmittel ihre Gruppe zu gewinnen, wissen sie wahrscheinlich bis heute nicht.

Ohne das Spektakel-Tor von Jude Bellingham im Achtelfinale gegen die Slowakei zu einem Zeitpunkt, als die Partie längst beendet hätte sein müssen (sechs Minuten Nachspielzeit waren angesichts der Geschehnisse auf dem Platz völlig unangemessen) wären die Three Lions längst wieder zurück auf der Insel. Und auch in der folgenden Runde war England gegen die Schweiz alles andere als die bessere Mannschaft.

Kein Wunder also, dass nicht nur in Deutschland der Großteil der Europäer den Spaniern die Daumen drückt.

Aus unserer Sicht kommt natürlich noch das Geschmäckle hinzu, dass der englische Schiri Taylor dem DFB-Team im Viertelfinale einen für die allermeisten klaren Elfmeter verweigerte, während der deutsche Referee Zwayer England durch einen sogar auf der Insel umstrittenen Pfiff zurück in die Partie verhalf.

All das reicht eigentlich schon, um sich das Spiel heute Abend zumindest imaginär in einem roten Trikot anzuschauen.

Es kommt aber noch eine weitere emotionale Komponente hinzu. Will man uns wirklich den jahrzehntelangen Spaß nehmen, sich über die Engländer lustig zu machen, die ihren einzigen großen Titel 1966 durch ein Tor gewonnen haben, das gar keins war?

Soll uns das Grinsen geklaut werden, wenn es für die Briten ins Elfmeterschießen geht, das sie nie gekonnt haben und plötzlich unter der Leitung des 1996er-Fehlschützen Gareth Southgate nahezu perfektioniert haben? Nein, heute sollte der Fußballgott dafür sorgen, dass das schöne Spiel belohnt wird.

Rasen-Retro!

Weißt du noch? Emotionales aus der EM-Historie

Bedrängt vom tschechischen Abwehrspieler Karel Rada zieht Stürmer Oliver Bierhoff ab und erzielt am 30. Juni 1996 im Londoner Wembleystadion im Endspiel gegen Tschechien in der Verlängerung das entscheidende 2:1.

1996 – „Golden Goal“ vom Posterboy: Es ist 1996, die EM steigt im „Mutterland des Fußballs“. Und auf dem heiligen Rasen des Wembley-Stadions in London wird Deutschland am 30. Juni Europameister. Durch das erste „Golden Goal“ in der Fußballhistorie, erzielt von „Joker“ Oliver Bierhoff. Nach einer vorwiegend ereignislosen ersten Hälfte verwandelt der Tscheche Patrik Berger einen umstrittenen Elfmeter zum 1:0. Angefressen wechselt Bundestrainer Berti Vogts in Minute 69 Mehmet Scholl aus und Stürmer Bierhoff ein. Der köpft nur einen Hauch später den Ausgleich und schießt in der Verlängerung (95.) mit dem Goldenen Tor Deutschland zum EM-Sieg.

Der ehemalige Schiedsrichter Kurt Tschenscher (hier 2013) pfiff 1968 das Halbfinale der EM zwischen Italien und der Sowjetunion

1968 – der deutsche Schiri und der große Wurf: Was waren das für Zeiten, damals, 1968! Das Elfmeterschießen ist noch nicht erfunden, das ersinnt erst zwei Jahre später der deutsche Fußball-Schiedsrichter Karl Wald. Doch zurück nach 1968: Am 5. Juni steht es im Stadio San Paolo in Neapel im Halbfinale zwischen Gastgeber Italien und der Sowjetunion 0:0 nach Verlängerung. Und jetzt? Kopf oder Zahl! Der deutsche Schiri Kurt Tschenscher (†2014; pfiff insgesamt 1800 Partien, galt als einer der besten Referees weltweit) muss eine Münze werfen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mit den beiden Verbandspräsidenten aus der Sowjetunion und Italien verschwindet Tschenscher in den Katakomben. Der sowjetische Funktionär Granatkin besteht – wie absurd! – auf einen Probewurf. Den gewinnen die Sowjets, der „richtige“ Münzwurf bringt Italien ins Finale. Die Azzurri werden wenig später Europameister. Und eine Münze wird danach zur Entscheidung in einem internationalen Wettbewerb nie wieder geworfen.

Günter Netzer bei der EM 1972

1972 – „Aus der Tiefe des Raumes“: Es ist das Jahr, in dem Zauberfußballer wie Portugals Luís Figo oder Frankreichs Zinédine Zidane das Licht der Welt erblicken – und in dem ein neuer deutscher Fußball geboren wird: elegant, leichtfüßig, kreativ! Das Team um Franz Beckenbauer, Georg „Katsche“ Schwarzenbeck, die Youngsters Paul Breitner und Uli Hoeneß (beide 19) sowie den überragenden Günter Netzer spielt auf wie ein Symphonieorchester. Am 29. April 1972 geht es im Viertelfinal-Hinspiel (so damals der Modus) gegen England. In Wembley. Dort, wo noch nie eine deutsche Elf gegen die Three Lions gewonnen hat. 3:1 tänzelt der spätere Europameister Deutschland die Engländer aus. „Traumfußball aus dem Jahr 2000“ jauchzt die französische „L'Équipe“ und „FAZ“-Kolumnist Karl-Heinz Bohrer schreibt den legendären Satz von dem aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßenden Netzer.

CSSR-Mittelfeldspieler Antonin Panenka trifft beim Elfmeterschießen bei der EM 1976 das Tor des deutschen Torhüters Sepp Maier zum 5:3-Siegtreffer.

1976 – Hoeneß' Highball, Maier in der falschen Ecke: Packendes EM-Finale 1976 in Belgrad (damaliges Jugoslawien): Die deutsche Elf um Kapitän Franz Beckenbauer (2024) trifft auf die Tschechoslowakei (CSSR). Nach 120 Minuten steht's 2:2, Elfmeterschießen. Beim Stand von 3:4 aus deutscher Sicht knallt Uli Hoeneß die Pille in den Belgrader Abendhimmel – der Legende nach ist der Ball von dort nie mehr zurückgekehrt. Dann folgt das Duell Antonín Panenka gegen Torwart Sepp Maier, die „Katze von Anzing“. Panenka nimmt einen langen Anlauf, lockt Maier in die rechte Ecke und lupft das Leder mitten ins Tor. 5:3 gewinnt die CSSR und der „Panenka-Heber“ wird fester Fußballbegriff.

Wilfried Van Moer und Jean Marie Pfaff.

1980 – vom Zapfhahn ins Finale: Es gibt Geschichten, die schreibt so schön nur König Fußball! Wie die des Belgiers Wilfried van Moer († 2021). Zwar schießt „Kopfballungeheuer“ Horst Hrubesch die deutsche Elf 1980 gegen Belgien mit zwei Traumtoren zum EM-Titel, doch van Moer, einstiger Mittelfeldregisseur von Standard Lüttich, wird zum Star des Turniers. Der Mann, der seit einigen Jahren die „Brasserie Wembley“ (gibt's heute nicht mehr) in Hasselt betreibt und nebenbei für den Erstliga-Abstiegskandidaten KFC Beringen kickt, wird für die EM-Quali gegen Portugal reaktiviert. Van Moer (damals 35) trifft, seine „Roten Teufel“ schaffen es bis ins Finale, das für sie allerdings mit 1:2 verloren geht. Die WM in Spanien 1982 wird van Moers letztes großes Turnier. 1996 coacht er für fünf Spiele die belgische Nationalelf, dann widmet sich der Pensionär dem Golf und seinem Garten.

Die dänische Nationalmannschaft freut sich 1992 über den EM-Pokal

1992 – Europameister „mit Big Mac und Badelatschen“: „We are red, we are white, we are danish dynamite!“ Mit diesem Schlachtruf, den Kommentator Heribert Faßbender nicht ganz fehlerfrei ins Deutsche übersetzen konnte, stürmen die Dänen um Brian Laudrup, Flemming Povlsen und Henrik Larsen zum EM-Titel. Dabei ist „Danish Dynamite“ zweite Wahl, Jugoslawien war wegen des Balkankrieges aus dem Turnier genommen worden. Dänemark rückt als Zweiter der Quali-Gruppe nach – gerade einmal zehn Tage vor Turnierstart! Viele Spieler werden aus dem Urlaub geholt. „Ich hatte erst einige Bedenken, ob ich da wirklich hinfahren sollte, so ganz ohne richtige Vorbereitung“, sagt Povlsen später dem „Kicker“. Natürlich siegen die Dänen nicht in Badelatschen, Junkfood aber aßen sie. Povlsen: „Vor dem Abschlusstraining zum Halbfinale gegen Holland sind wir tatsächlich bei McDonald's eingekehrt.“

Der portugiesische Torwart Ricardo pariert 2004 bei der EM einen Elfmeter des Engländers Darius Vassell

2004 – Der Elfer-Killer mit den nackten Händen: Handschuhe? Pah, ein EM-Viertelfinale ist doch kein Ponyhof! So oder ähnlich mag der portugiesische Keeper Ricardo 2004 gedacht haben, als sein Team bei der Heim-EM den Engländern gegenüber steht. Nach Verlängerung steht es 2:2 Elfmeterschießen. Damals nicht gerade die englische Parade-Disziplin. Und so verschießt David Beckham den ersten Elfer, ihm tut es Rui Costa auf portugiesischer Seite nach. Danach treffen bis zum 5:5 alle Schützen, dann kommt Darius Vassell für England. Torwart Ricardo streift seine Handschuhe ab, wirft sie weg. Taktik aufgegangen, Vassell ist irritiert, verschießt. Dann schnappt sich Ricardo das Leder, netzt selber ins Tor von David „Calamity“ James und markiert den Endstand von 8:7 nach Elfmeterschießen für Portugal. Europameister 2004 wird allerdings Griechenland …

Griechenlands Nationaltrainer Trainer Otto Rehhagel feiert 2004 mit seiner Mannschaft den Europameister-Titel.

2004 – Rehakles im Fußball-Olymp: Beim Zeus! Da kommen die Griechen 2004 als krasse Außenseiter nach Südwesteuropa gereist, setzen bereits im Eröffnungsspiel gegen Gastgeber Portugal eine Duftmarke und gewinnen 2:1. Und dann spielt die Elf von Otto Rehhagel, der ab sofort „Rehakles“ genannt wird, wie von Nektar und Ambrosia beseelt: Ratzfatz stehen sie im Finale – Gegner ist wie im Eröffnungsspiel Portugal. Angelos Charisteas setzt sich spektakulär im Luftkampf gegen zwei Portugiesen durch, die Hellenen gewinnen trotz 20 Torchancen des Gegners mit 1:0 und sind Europameister. Eine wahrgewordene griechische Heldensage!

Sergio Ramos beim Gewinn der Fußball-EM 2008 mit einem T-Shirt, das seinen toten Vereinskameraden Antonio Puerta zeigt.

2008 – meisterliche Würdigung: Er hat eine glänzende Karriere vor sich, der gerade mal 22 Jahre alte Antonio Puerta vom spanischen Erstligisten FC Sevilla. Er absolviert sein erstes (und leider einziges) Länderspiel für Spanien 2006 gegen Schweden. Dann, am 25. August 2007, bricht der junge Mann, der sich auf sein erstes Kind freut, beim Spiel gegen den FC Getafe auf dem Platz zusammen. Er wird ausgewechselt, kollabiert in der Kabine – Herz-Kreislaufstillstand! Fünfmal wird er reanimiert. Vergeblich. Puerta stirbt drei Tage später. Zu seinen Ehren trägt sein einstiger Vereinskamerad vom FC Sevilla, Sergio Ramos, zur Siegerehrung der EM 2008 ein T-Shirt mit der Aufschrift „Siempre con nosotros“ („Immer bei uns“).

1/9

Apropos Fußballgott: Wenn man nicht gerade Anhänger von Bayer Leverkusen ist, hat der im bisherigen Jahr aus rheinischer Sicht nun wirklich schon genug Unheil angerichtet.

Den 1. FC Köln hat er blutleer absteigen lassen und seinen Fans bei der Heimniederlage gegen Darmstadt einen Kulturschock verpasst, der lange in Erinnerung bleiben wird. Dass durch Last-Minute-Erlebnisse der positiven Art trotzdem noch mal sowas wie Hoffnung aufkeimte, ist eher als zusätzliche Gemeinheit anzusehen.

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In Düsseldorf setzte er noch einen drauf. Die Jahrhundertchance aufs Pokalfinale vermasselte er in der Vorschlussrunde mit dem Horror-Los Leverkusen. Und als wenn das nicht gereicht hätte, ließ er Fortuna in der Relegation nach einem grandiosen 3:0-Sieg in Bochum im Rückspiel doch noch scheitern, und zwar in der Verlängerung des Elfmeterschießens.

Den Fans von Gladbach dürfte das alles fast egal gewesen sein, denn wer nach dieser Rückrunde noch Lust auf Fußball hatte, dem ist eigentlich nicht mehr zu helfen. Also, lieber Fußballgott: Es gibt ein bisschen was gutzumachen ...