Für den FC Bayern München und Trainer Julian Nagelsmann stehen die Wochen der Wahrheit an. Der Serien-Meister wirkt ausgerechnet jetzt vor drei „Endspielen“ in drei Wettbewerben verwundbar.
Wochen der WahrheitSaison-Finale für FCB und Nagelsmann: In drei Wochen alle drei Titel futsch?
Die Älteren erinnern sich: Es gab schon einmal einen Deutschen Meister, der nicht Bayern München hieß. Zuletzt passierte das in der Saison 2011/12. Damals fegte Borussia Dortmund angetrieben von Trainer Jürgen Klopp (55) durch die Bundesliga und demütigte die Bayern nach 2010/11 zum zweiten Mal in Folge.
Die Reaktion der Bayern auf diese Demütigung: zehn Meisterschaften hintereinander, eine klarer als die andere. Mal waren die Bayern schon im März Meister, mal erst im April. Spannung im Titelkampf? Fehlanzeige!
Julian Nagelsmann macht die Bundesliga endlich wieder spannend
Doch das ist jetzt unter Trainer Julian Nagelsmann (35) anders. Aktuell sind die Bayern in der Liga nur Zweiter, einen Punkt hinter Borussia Dortmund. Und nach der Länderspielpause kommt es in München zum Showdown: Titelverteidiger Bayern München empfängt am 26. Spieltag (Samstag, 1. April, 18.30 Uhr/Sky) den schwarz-gelben Tabellenführer aus Dortmund.
Dass es überhaupt zu dieser Konstellation kommt, ist durchaus überraschend, denn die Bayern hatten zum Zeitpunkt der WM-Pause im November 2022 satte neun Zähler Vorsprung auf die damals noch kriselnden Dortmunder. Zehn Spieltage später hat der BVB 53 Punkte auf dem Konto, während die Bayern nach der verdienten 1:2-Niederlage in Leverkusen am Sonntag (19. März 2023) lediglich 52 auf der Habenseite verbuchen.Nehmen Sie auch an unserer Umfrage teil:
Zum Vergleich: In der abgelaufenen Saison, als unter dem damals neuen Bayern-Trainer Nagelsmann auch schon nicht alles nach Plan lief, man unter anderem im DFB-Pokal eine peinliche 0:5-Packung in Gladbach einsteckte und im Viertelfinale der Champions League am Außenseiter FC Villarreal hilf- und planlos scheiterte, hatten die Bayern in der Bundesliga neun Punkte Vorsprung auf Borussia Dortmund und Platz zwei.
Vor der laufenden Spielzeit hatte Nagelsmann alles auf den Prüfstand gestellt und den Bayern-Bossen Oliver Kahn (53) und Hasan Salihamidzic (46) eine bessere und erfolgreichere Saison in Aussicht gestellt. Rund zwei Monate vor dem Saisonende fällt die Beurteilung von Nagelsmanns Arbeit ernüchternd aus.
FC Bayern nicht nur in der Bundesliga gefordert
Im DFB-Pokal steht der Rekordsieger nach drei Pflichtsiegen über Viktoria Köln, den FC Augsburg und den FSV Mainz 05 im Viertelfinale. Dort treffen die Bayern nach dem Bundesliga-Gipfel gegen den BVB nur drei Tage später auf den SC Freiburg. Ein Kraftakt gegen Dortmund vorausgesetzt, erscheint ein Aus gegen die unangenehmen Breisgauer zumindest nicht gänzlich unvorstellbar.
In der Champions League zeigten die Bayern bislang wirklich gute Leistungen, ließen in der Gruppe den FC Barcelona mit Ex-Tormaschine Robert Lewandowski und Inter Mailand souverän hinter sich. Im Achtelfinale zeigte der FCB Paris Saint-Germain mit Weltmeister Lionel Messi (35) und dem französischen Superstar Kylian Mbappé (24) klar die Grenzen auf.
Doch im Viertelfinale wartet in Manchester City mit Ex- und Über-Trainer Pep Guardiola (52) der nächste Brocken auf Nagelsmann und seine Bayern. Ein Weiterkommen gegen das mit Geld aus Abu Dhabi gespickte Star-Ensemble ist alles andere als sicher. Und in einem möglichen Halbfinale ginge es für den FC Bayern dann gegen Real Madrid oder den FC Chelsea. Zwei Teams, mit denen der FCB in der Vergangenheit nicht allzu gute Erfahrungen in internationalen Vergleichen gesammelt hat.
Nagelsmann und die Bayern wirken zur Unzeit angeschlagen und verwundbar. Das 1:2 in Leverkusen war absolut verdient, auch wenn das Zustandekommen nach verspielter Führung und zwei Elfmetern für die Werkself kurios anmutet. Und das zieht sich wie ein roter Faden durch die Saison: Die Bayern sind unter Nagelsmann weit davon entfernt, selbst in der unausgewogenen Bundesliga, unschlagbar zu sein.
Taktisch planlos, aber Spielglück und individuelle Klasse helfen
Im Gegenteil, die Bayern wirken taktisch nicht gut eingestellt, verunsichert und verwundbar. In der Abwehr reihen sich immer wieder unerklärbare Blackouts ein, der Spielaufbau wirkt oft berechenbar und chaotisch.
Spielkontrolle, Positionsspiel und daraus resultierende Dominanz sucht man bei den Bayern unter Nagelsmann oft vergeblich. Der Punkteschnitt ist nicht das Ergebnis von unglücklichen Zufällen, den Bayern fehlt es an einem Plan. Oder die hoch bezahlten und mit allerlei Titeln dekorierten Profis verstehen ihn nicht.
In sehr vielen Partien in dieser Saison hatte Bayern das nötige Spielglück, wie es die Fußballtrainer heutzutage nennen. In den zwei Spielen gegen Paris war der VAR mit seiner kalibrierten Linie im Hinspiel ein Freund der Münchner, im Rückspiel hatte Nagelsmann Glück, dass ein Aussetzer von Torwart Yann Sommer (34) nicht bestraft wurde.
Generell wirkt Nagelsmanns Mittelfeld-Plan mit einem riesigen Loch zwischen Joshua Kimmich (28) und Leon Goretzka (28) und der Abwehr wenig durchdacht. Seine dauernden Wechselspiele zwischen Dreier- und Viererkette wirken zudem willkürlich. Die individuelle Klasse der Bayern-Stars rettete den jungen Trainer gleich schon mehrere Male, seine taktischen Maßnahmen trugen eher selten dazu bei.
Julian Nagelsmann hat viele Baustellen beim FC Bayern
Kann das der Anspruch des FC Bayern mit diesem Kader sein? Bei einem anderen Trainer, unter anderen Bedingungen, hätten die Bayern-Bosse wohl schon längst eingegriffen. Doch der Fall Nagelsmann ist für die Führungsetage speziell.
Einerseits verpflichtete man den jungen Trainer für eine Weltrekord-Ablöse, man spricht von bis zu 25 Millionen Euro Ablöse, die die Bayern nach Leipzig überwiesen, um ihren Wunschtrainer zu bekommen. Bei so einer hohen Summe zeigt man schon mal Nachsicht – Nagelsmann besitzt einen Bonus. Und offenbar eine Klausel im Vertrag, die ihm eine exorbitant hohe Abfindung garantiert, sollten die Bayern ihn in den ersten zwei Spielzeiten entlassen. Ab Juli soll sich diese Summe deutlich verringern.
Das Sportliche ist das Eine, dazu kommen unzählige Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Das Thema Manuel Neuer (36) wurde von Nagelsmann nur unzureichend moderiert, die Trennung von Neuers Torwart-Trainer Toni Tapalovic (42) hinterließ genauso viele Fragezeichen wie Scherben im Verhältnis zur ewigen Nummer Eins im Bayern-Tor.
Auch im Umgang mit Thomas Müller gibt es immer wieder Differenzen. Zudem wird sein Ehe-Aus und das anschließende Anbandeln mit einer „Bild“-Reporterin kritisch gesehen. Die Rückkehr zum FC Hollywood, inklusive Suche nach dem Maulwurf, fällt nach Jahren der Ruhe und Harmonie ebenfalls in seine Amtszeit.
Serge Gnabrys (27) Auftritt auf der Pariser Fashion Week sowie die daraus resultierenden Debatten und Leroy Sanés (27) andauernder Kampf mit der Pünktlichkeit sind weitere Probleme, die Nagelsmann nicht richtig in den Griff bekommt. Die Trennung von Lewandowski, von Nagelsmann nicht verhindert, manche sagen auch: dankbar angenommen, wirft ebenfalls noch ihre Schatten auf die laufende Saison.
FC Bayern kann Lewandowski-Aus nicht auffangen
Lewandowskis eigentlicher Nachfolger sollte Sadio Mané (30) sein, doch der Senegalese ist kein Mittelstürmer. Das war er auch noch nie in seiner Karriere. Weder in Salzburg, noch in Southampton, auch nicht beim FC Liverpool. Nagelsmann wusste es aber besser, wähnte den FC Bayern mit dem Senegalesen im Sturmzentrum weniger leicht ausrechenbar. Das Resultat: Mané erzielte bislang gerade einmal sechs Tore in der Liga, in allen Wettbewerben kommt er auf überschaubare elf Erfolgserlebnisse in 28 Spielen.
Probleme über Probleme, Baustellen über Baustellen. Und nun folgen die Wochen der Wahrheit. Für die Bayern. Und für Nagelsmann. Denn nach den Begegnungen gegen Dortmund, gegen Freiburg (zweimal in Pokal und Liga) und Manchester dürfte feststehen, in welche Richtung die Saison geht. Und um wie viele Titel Nagelsmann mit den Bayern noch mitspielt.
Der Bayern-Kader ist zwar nicht perfekt aufgestellt, vor allem auf der Sechser- und Neunerposition, doch er ist qualitativ so stark, dass es schon ein Kunststück ist, mit ihm die schwächelnde Bundesliga nicht zu beherrschen. Nagelsmann ist in knapp zwei Jahren etwas gelungen, nach dem sich Deutschlands Fußball-Fans jahrelang gesehnt hatten: Er hat die Bundesliga wieder spannend gemacht. Ob das im Sinne der Bayern ist, bleibt fraglich. Genauso die Frage, wie lange sich die Bosse das noch antun. (can)