Kommentar zur EM-EuphorieDas fehlt Deutschland noch auf dem Weg zum kollektiven Rausch

Deutschlands Torhüter Manuel Neuer (M) und seine Teamgefährten jubeln nach dem 2:0-Sieg.

Die Nationalspieler um Keeper Manuel Neuer jubeln nach dem Sieg gegen Ungarn am Mittwoch (19. Juni 2024) in Stuttgart.

Die Nationalmannschaft hat bereits das EM-Achtelfinale erreicht. Die jüngsten Siege haben eine neue Euphorie rund um das Team ausgelöst. Trotzdem ist auch da noch Luft nach oben. Ein Kommentar zur Lage.

von Marcel Schwamborn  (msw)

Nach der trostlosen WM 2018 in Russland, der merkwürdigen Pandemie-EM 2021 und dem Winter-Desaster 2022 in Katar erlebt die Fußball-Nation plötzlich wieder, wie berauschend und emotionalisierend solch ein Turnier sein kann.

Volle Stadien, liebenswerte Fangruppen – vor allem aus Schottland – und nur vereinzelte Ausschreitungen prägen das Bild. Selbst die großen Defizite bei der An- und Abreise zu den Spielen aufgrund der desaströsen Infrastruktur im Land zerstören nicht die gute EM-Laune.

ARD: 23,89 Millionen Menschen schauten das Ungarn-Spiel

Dass Deutschland plötzlich wieder im Nationalmannschafts-Rausch ist und sich 23,89 Millionen Menschen die Übertragung des Ungarn-Spiels angeschaut haben, ist vor allem ein Verdienst der DFB-Elf und ihres Trainerstabs.

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Es ist noch nicht viele Monate her, da galten Länderspiele als der nervigste Störfaktor im Bundesliga-Alltag. Jedem noch so absurden Transfergerücht wurde deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem Wirken der deutschen Auswahl.

Deutsche Fans gehen beim Fanmarsch durch die Innenstadt.

Mit einem Fanmarsch stimmten sich viele auf das Spiel gegen Ungarn. Diese gemeinsame Initiative war schon mal ein guter Anfang.

Doch nach zähen, erfolglosen Jahren ist ein neuer Geist rund um die Truppe entstanden. Plötzlich ist es wieder en vogue, Deutschland die Daumen zu drücken und gemeinsam die Spiele zu verfolgen – sei es auch im Gratis-Trikot eines Vergleichsportals. „Es ist schön, dass die Nationalmannschaft immer noch in der Lage ist, das Land anzuzünden“, sagte Toni Kroos (34).

Die Mannschaft hat mit ihrer Entwicklung die Begeisterungsfähigkeit im Land befeuert. Gegen Ungarn ackerte sie sich mit Leidenschaft, Laufbereitschaft und Zweikampfhärte in die Partie. Es ist nicht allzu lange her, da wäre sie angesichts der massiven gegnerischen Gegenwehr eingeknickt, wenn es nicht von Anpfiff an flüssig gelaufen wäre.

Deutschland gehört nach den zwei Auftaktsiegen und der spannenden Mischung im Team aus Erfahrung (Kroos, Neuer), Selbstbewusstsein (Rüdiger, Gündogan), Unbekümmertheit (Tah, Mittelstädt) und Talent (Musiala, Wirtz) sicherlich zum Kreis der Titel-Favoriten. Je länger das Turnier dauert, desto mehr wird der Funken noch überspringen.

Denn bis zum kollektiven nationalen Rausch, den die Niederlande oder die Türkei vorleben, ist es noch ein wenig. „Oh, wie ist das schön“ und „Major Tom“ sind bisher der Soundtrack zum Sommermärchen. Der Fanmarsch in Stuttgart war ein Anfang, wirkte im Vergleich zu anderen Nationen trotzdem ausbaufähig. Deutschland-Fahnen sind beim Public Viewing ebenfalls noch Seltenheit.

Es ist möglich, dass durch dieses Turnier und diese Mannschaft ein gespaltenes und verwirrtes Land wieder ein wenig zueinander findet. Das Lagerfeuer Nationalmannschaft flackert wieder. Und es kann ein wenig Kitt liefern angesichts der zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme im Land.