Heimkind WalterGedemütigt – aber der Vorgang von 1966 holt die Stadt Köln jetzt ein
Köln – Ein 52 Jahre alter Brief eines Oberstadtdirektors und die Geschichte einer Kölner Arztfamilie stehen im Zentrum einer Affäre um die Namensgebung für den Platz des ehemaligen Kölner Kinderheimes in Sülz. Ehemalige Heimkinder wollen eine gänzliche Umbenennung des nach dem ehemaligen Oberstadtdirektor Heinz Mohnen benannten Platzes.
So wie der heute 67-Jährige Kölner Walter P. (Name geändert), der in den Jahren 1961 bis 1966 im Heim lebte – und unter die Räder geriet. EXPRESS traf den Ehemaligen, der sagt, er habe trotz allem, was passiert sei, in seinem Leben noch die Kurve bekommen. Er erzählt seine bewegende Geschichte.
Walters Mutter schrieb im April 1966 einen Brief an die Stadt
Walter, ein Scheidungskind, hatte die Zustände im Heim, vor allem die Übergriffe einer Nonne, seiner Mutter geschildert. Die hatte sich im April 1966 schriftlich an die Stadt gewandt. Das dreiseitige, umstrittene Antwortschreiben vom 4. Mai 1966 verfasste der damalige Oberstadtdirektor Heinz Mohnen persönlich.
Ein bis heute nachhallender, zentraler Satz des Schreibens, in dem Mohnen die Vorwürfe nahezu kategorisch zurückweist und den Spieß umdreht, lautet: „Unter diesen Umständen dürften Ihre Anschuldigungen ausschließlich auf Mißverständnissen bzw. entstellenden Darstellungen Ihrer Kinder beruhen, denen - abgesehen davon, daß der Wert von Kinderaussagen grundsätzlich sehr zweifelhaft ist - (...) die Einsicht in das aus erzieherischen Gründen Erforderliche fehlt.“
Kinderheim-Areal wurde 2011 nach Heinz Mohnen benannt
Vor allem aufgrund dieses Satzes steht die Namensgebung für das neu bebaute ehemalige Kinderheim-Areal in der Kritik. Es wurde bereits im Jahr 2011 ausgerechnet nach Mohnen benannt.
Die Mutter hatte in ihrem Beschwerdebrief, der nicht mehr vorliegt, offenkundig kritisiert, dass ihre Kinder ungerecht und abfällig behandelt würden. Offenbar gab es in Bezug der Brüder eine „spezielle Unterrichtung und Lenkung“, wie Mohnen selbst schreibt.
In dem Zusammenhang heißt es von Mohnen an die Mutter gerichtet weiter: „Eine derartige pädagogische Maßnahme mit den Worten zu beschreiben, Schwester Johanna Magdalena „rede“ Ihren Kindern „ein“, „sie seien nicht fähig zu lernen“, beweist entweder eine böswillige Unterstellung oder doch zumindest eine völlig mangelhafte Einsicht in die Notwendigkeit der Erziehung.“ Im übrigen hätten ihm Zeugen bestätigt, „daß sie den Ausdruck „fressen“ aus dem Munde der Schwester Johanna Magdalena noch nie gehört haben.“
Oberstadtdirektor forderte Mutter auf, sich bei der Nonne zu entschuldigen
Nach zwei Seiten, in denen sich der ein Jahr zuvor ins Amt gewählte Oberstadtdirektor in empörter Pose vor die Heimbelegschaft stellt, schließt er auf der dritten Seite in absolutistischer Manier:
Treffen in einem Café in Sülz: Eine Zeitreise in die 60er Jahre
Ein Café auf der Berrenrather Straße in Sülz, vor wenigen Wochen. Walter P. ist zurück im Viertel, das sein Schicksalsort wurde. Das Kinderheim lag am benachbarten Sülzgürtel.
Die Eltern hatten sich nach 17 Ehejahren getrennt. Weder der Vater, Hautarzt an der Uniklinik, noch die nach sechs Kindern, drei Totgeburten und Kriegstraumata ausgebrannte Mutter hatten sich in der Lage gefühlt, die Kinder weiter zu betreuen. Drei Jungs und zwei Mädchen kamen 1961 für mehrere Jahre ins Heim.
Ironie der Geschichte: Im Haus der Familie in der Ottostraße 7 in Ehrenfeld war der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings regelmäßig zu Gast gewesen. Er traf eine nahe Verwandte, Frau Custodis aus dem ersten Stock, einmal im Monat zum Kaffee, erzählt Walter. „Ich sagte zum Erzbischof immer „Onkel Josef“. Er erzählte mir immer Tünnes-und-Schäl-Witze. Ich habe die Kirche als Kind positiv erlebt.“
Doch mit der Trennung der Eltern, sagt Walter, „war unser altes Leben komplett vorbei“. Im städtischen Kinderheim, in das er gebracht werden sollte, lag die Erziehung in der Regie eines katholischen Ordens, der „Schwestern vom armen Kinde Jesus“.
Über die Ehemaligen, denen im Kinderheim Schlechtes widerfuhr, sagt Walter: „Es gibt die, die überhaupt nichts mehr damit zu tun haben wollen und die, die darüber fast schon professionell reden. Ich stehe so ein bisschen in der Mitte.“
Walter ist einer der Brüder, um die es im Brief des Oberstadtdirektors geht. Er hatte sich damals seiner Mutter bei einem ihrer Besuche anvertraut.
Mädchen wären damals in der Regel gehegt und gepflegt worden. Wenn die Jungs sich gewaschen hätten, habe es einen riesigen Blecheimer mit Schmierseife gegeben. „Damit wurde auch der Boden geputzt“, so Walter.
Schikanen im Heim: „Die Kinder sollten für ihre Eltern büßen“
Allgemein habe unter den Nonnen die Überzeugung geherrscht, dass die Kinder im Heim Ausdruck des vermeintlich sündigen Verhaltens ihrer Eltern seien und für diese büßen müssten. Dass eine Frau sich beispielsweise scheiden ließ, galt zu jener Zeit als skandalös. „Wir wurden deshalb drangsaliert und erniedrigt.“
Er habe beispielsweise 40 Paar Schuhe putzen müssen, innen und außen und unter der Sohle. „Wenn an irgendeinem Schuh noch ein Streifen zu sehen war, warf Schwester Johanna Magdalena alle Schuhe auf einen Haufen, und die Arbeit ging von vorne los.“
Auch sein jüngerer Bruder sei von der Nonne, die aus der Eifel stammte, systematisch getriezt worden: „Er war ihr Prügelkind.“
Walter erzählt: Die Nonne, die Schere, sein Bruder, das Buch
Die Nonne habe die Angewohnheit gehabt, immer eine Schere bei sich zu führen. Eines Tages, als sein Bruder am Tisch ein Buch gelesen habe und einer Aufforderung der Schwester nicht schnell genug nachgekommen war, sei es zu einem schrecklichen Zwischenfall gekommen. „Die Schwester hackte die Schere plötzlich mit so einer Wucht ins Buch, dass die Spitze fast bis zum Buchdeckel drang.“
Auf diesen Vorwurf entgegnete Heinz Mohnen nach interner Befragung in seinem Brief: „In Wahrheit hat sich der Vorgang wie folgt abgespielt: (...) Die Schwester machte das Buch zu, wobei ihr die Schere mit der Spitze auf das Buch fiel.“
Die Schwester, sagt Walter, habe manchmal ganz ausgelassene Tage gehabt, er erinnert sich an lustige Rommé-Abende. „Aber sie hatte eine sadistische Ader.“ Einmal habe sie ihn aufgefordert, seinen eigenen Bruder mit einem Kleiderbügel zu verprügeln. Nach dieser Sache sei er aus dem Heim geflüchtet.
Walters Mutter starb im vergangenen Jahr
Der Vater von Walter P. starb bereits 1988, seine Mutter starb im vergangenen Jahr in einem Altersheim in Brühl. Sie wurde 93 Jahre alt. 1968 hatte sie neu geheiratet. Walter sagt: „Der Brief des Oberstadtdirektors an Sie hat für mich eine historische Bedeutung. Bis heute tut mir meine Mutter deshalb leid. Wir Kinder haben uns später mit ihr versöhnt. Sie hatte es damals einfach zu schwer gehabt.“
Den Brief habe sie stets in einem Ordner aufbewahrt.