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Der spieleröffnende TorhüterEine geniale Idee und sein tragischer Ursprung
Hamburg – Das Jahr 2018 dürfte als das turbulenteste Jahr der Vereinsgeschichte in die Annalen des Hamburger SV eingehen. Tausende Menschen hatten sich, trotz des Abstiegs des Bundesligadinos, zu einer Mitgliedsschaft entschieden und zu einer Hochstimmung in einer sportlichen Trauerphase geführt.
Trainer Christian Titz hatte die Hanseaten kurz vor Saisonende übernommen. Den Abstieg konnte der 47-Jährige nicht verhindern, doch zeigte die Mannschaft ein verbessertes Gesicht, kämpfte, gewann die Herzen der Fans zurück und wurde mit Applaus in die 2. Bundesliga verabschiedet.
Christian Titz wurde trotz des Abstiegs als Held gefeiert. Er hatte junge Spieler aus der zweiten Mannschaft integriert und mit Julian Pollersbeck einen offensiv mitspielenden Torwart ins System eingegliedert. Ein Torwart, der als dritter Innenverteidiger spielt, so etwas hatte es in der Bundesliga noch nicht gegeben. Ein Torwart, der die Spieleröffnung prägt, nie zuvor gesehen. Ein halbes Jahr später ist Christian Titz entlassen – Nachfolger Hannes Wolf beorderte Pollersbeck zurück zwischen die Pfosten – dauerhaft.
Doch der offensiv spieleröffnende Torhüter hat Eindruck hinterlassen. Thiago Motta, U19-Coach bei Paris Saint-Germain, übernahm das Konzept, ebenso die Jugend des dänischen Erstligisten FC Nordsjaelland. Im Herrenfußball ist das markante Torwartspiel jedoch kaum zu sehen. Ist der spieleröffnende Torhüter also nur eine kurze Modeerscheinung oder zukunftsträchtig?
Eine Analyse von Jann Philip Gronenberg mit Christian Titz, Tobias Escher und Flemming Pedersen
„Ich habe schon immer versucht, als mitspielender Torwart zu agieren. Ich werde jetzt im Training weiter Gas geben und versuchen, mich weiter in dieses Spielsystem einzufinden, um es am Ende bestmöglich umsetzen zu können," sagt Julian Pollerbeck im März 2018. Der 23-Jährige freut sich über seine neue Rolle. „Ich bin prinzipiell eher dem Risiko zugeneigt. Und ich habe großen Spaß an der Art, wie wir beim HSV jetzt Fußball spielen."
Arsenal London-Scout Steven Fraser entdeckt das mutige Offensivspiel, lobt die Torhüter-Revolution via Twitter:
Zu deutsch: Sehr interessantes Positionsspiel von Hamburgs Torhüter Julian Pollersbeck an diesem Wochenende, ich liebe es! Wie lang wird es dauern, bis ein Torhüter auf einer Höhe mit seinen Innenverteidigern in der eigenen Hälfte spielen wird?
Ein Kind prägt die Taktik
Ein Riesenkompliment für den revolutionären Ansatz von HSV-Coach Christian Titz. Dabei hat die Idee des offensiven Torhüters mit der wohl dunkelsten Stunde in Titz Leben zutun. Doch der Reihe nach: Nach seinem Karriereende trainiert Christian Titz eine E-Junioren Mannschaft in der Nähe von Aachen.
„Wir haben im Winter in der Halle gespielt, auch gegen Mannschaften aus Leistungszentren. Da habe ich dann unseren Torhüter höher geschoben, damit wir eine Konterabsicherung und eine zusätzliche Anspielstation haben“, erzählt Titz. Schon damals faszinierte ihn die Idee vom mitspielenden Torhüter.
„Ich fand es schon als Spieler gut, wenn man von hinten heraus eröffnet. Ich hatte das aber nie so gesehen, dass der Torwart ganz so hoch stand. Das ist ein wenig durch die Erkrankung meines Sohnes entstanden. Der war schwer an Rheuma erkrankt. An Fußball mit Leistungsbezug war nicht mehr zu denken.“
Die entzündliche Autoimmunerkrankung stellte Familie Titz vor ein Problem: Denn Titz Junior war ein äußerst passabler Fußballer und eiferte seinem Vater nach, der es bis in die damals drittklassige Regionalliga schaffte.
Ein Vater ermöglicht seinem Kind das Fußball spielen
„Noch während der Erkrankung war es aber so, dass er unbedingt Zeit mit seinem Papa verbringen wollte – und der war halt Fußballtrainer. Auch die Familientherapeutin sagte, ´wenn Sie wollen, dass er über seine Krankheitsphase gut hinwegkommt, dann verbringen Sie Zeit mit ihm´ – und er wollte unbedingt Fußball spielen, sagt Christian Titz am 28. August im TV-Format des HSV-Blogs „Rautenperle“.
Doch das war nicht ganz so einfach, wie Titz im Gespräch mit EXPRESS festhält: „Das war für mich als Trainer natürlich schwierig, weil ich natürlich genau zu den Zeiten arbeiten musste, zu denen mein Sohn heimkam. Deshalb habe ich damals die U13 des HSV Breitensport übernommen, habe die Mannschaft trainiert und meinen Sohn integriert. Der konnte durch das Rheuma nicht sprinten und phasenweise nicht richtig laufen, aber er konnte kicken. Deshalb habe ich ihn zum spielenden Torhüter gemacht.“
Ein Grundgedanke und ein überraschender Sieg
Der leistungsorientiert denkende Titz nimmt das spielerische Niveau der HSV-Hobbymannschaft zur Kenntnis:
„Wenn wir dem Gegner den Ball gegeben hätten, so meine Befürchtung, hätten wir keine Chance auf den Sieg gehabt. Also habe ich überlegt: Wie können wir den Ball behalten? Und mein Sohn konnte Fußball spielen, er konnte halt nur nicht sprinten. Also habe ich ihn ins Tor gestellt, und habe trainiert – hochstehender Torhüter, zwei breite Innenverteidiger und ein 6er in Rautenformation. Wir hatten im Team einen guten Sechser und einen guten Innenverteidiger. Deshalb habe ich darauf gesetzt, mit diesen dreien eine gewisse Stabilität hinzukriegen. Und wenn wir dann die Gegner herauslocken, überspielen wir sie mit einem langen Ball. Im ersten Spiel dachte ich ehrlicherweise, wir kriegen voll eine rein. Stattdessen haben wir hoch gewonnen“, berichtet Titz bei „Rautenperle“.
Der Grundstein ist gelegt
Aus dem Schicksalsschlag entwickelt Christian Titz eine Spielweise, die seinem Sohn das Fußballspielen möglich macht und wenn es ihm besser ging konnte er aufgrund der Spieldominanz auch immer wieder wechselweise als Feldspieler mitspielen.
Mit der Zeit feilt Titz immer weiter an einem möglichst reibungslosen Konzept, wie der offensive Torhüter ein Gewinn für die Spieleröffnung darstellt und gleichzeitig das Risiko des Stellungsspiels minimiert.Er überträgt das Konzept in die U17 des HSV, die er ebenfalls trainiert, dort aber noch modifizierter. Später wendet er dasselbe System bei der U21 an, die unter Titz lange um die Meisterschaft mitspielt. Und auch bei den Profis greift er auf dieselbe Methode zurück.
Tobias Escher erklärt die Taktik
„Ich finde das ist grundsätzlich eine schöne Idee“,sagt Tobias Escher. Er gilt als einer der besten Fußballanalytiker Deutschlands. Der 31-Jährige analysiert Spiele für Spiegel Online, ist Moderator der Fußballshow „Bohndesliga“ und schreibt für den preisgekrönten Blog „Spielverlagerung“.
„Diese Taktik kann man einsetzen, um einen zusätzlichen Feldspieler zu haben. Man muss natürlich aufpassen, dass du hinten keine Fehlpässe spielst, denn wenn diese Taktik nicht funktioniert, sieht es blöder aus, als dass es gut aussieht, wenn es funktioniert. Der Benefit wird eher indirekt deutlich, weil man sich dafür detailliert mit dem Spielaufbau auseinandersetzen muss. Wenn es jedoch schief geht, fällt leicht ein Gegentor.”
Christian Titz packt aus
Um die Taktik zu verstehen, teilt Titz sein System in drei Aspekte auf.„Zum einen, dass man den langen Ball in gefährliche Zonen kriegt, wo man Druck hat. Es hat darüber hinaus den Aspekt, dass, wenn der Torhüter den langen Ball spielt, man die Konterabsicherung durch die hochstehenden Verteidiger schneller hinbekommt, da dieser mit dem Pass vom Torhüter bereits einrücken kann. Und wenn du schon einmal den Ball hast und der Gegner dich anläuft, hast du mit dem Torhüter einen Spieler mehr um den Zielspieler freizuspielen. Dadurch kann man dann in Überzahl spielen.“
Doch Christian Titz kennt auch die Lücken im System:“Die Problematik bei dem Spiel ist natürlich, dass der Torhüter erkennen muss – ´wann gehe ich hoch, wann gehe ich nicht hoch, wann lasse ich die Innenverteidiger eröffnen und wann schlage ich den Ball lang?´ Ich sage: Der Keeper hat immer die Möglichkeit, den Ball lang zu schlagen. Und das muss der Torwart lernen. Bevor er Risiko geht und unter Gegnerdruck gerät soll er einfach den Ball lang schlagen.“
Je offensiver, desto sicherer
Tobias Escher ergänzt: „Je offensiver ein Team dieses System spielt, desto schwieriger ist es für den Gegner einen Ballverlust in ein schnelles Gegentor umzumünzen.“
Titz sieht das ähnlich: „Wenn du hinten herum spielen lässt, um den 16er, da ist man eher vorsichtiger. Denn da ist ein Ballverlust gefährlicher. Wenn aber ein Spieler an der Mittellinie den Ball abfängt – der muss ihn erst einmal annehmen, sich den Ball zurechtlegen, dann kommt schon der Gegner, attackiert und stresst. Unser Torwart hat also Zeit ins Tor zurückzulaufen.“
Paris Saint-Germain spielt ähnlich
Nicht nur Tobias Escher und Arsenalscout Steven Fraser sind auf das offensive Torwartspiel aufmerksam geworden. Als Spieler begeisterte Thiago Motta mit genialer Übersicht im Mittelfeld, heute gibt er sein Wissen als Trainer der U19 von Frankreichmeister Paris Saint-Germain an die Stars von morgen weiter.
Erst im November machte Motta von sich reden, als er von seinen elf Feldspieler sprach. Es spricht Bände über Mottas Verständnis des Torwartspiels.
Titz´ Idee in Dänemark adaptiert
Und auch in Dänemark wird Titz Spielidee inzwischen erfolgreich angewandt. Der FC Nordsjælland ist für seine gute Jugendarbeit bekannt. Hier wird mittlerweile in allen Jahrgangsstufen der spieleröffnende Torhüter angewandt.
Flemming Pedersen, Trainer des Kopenhagener Erstligisten, entdeckte die Spielweise bei einem Besuch in Hamburg. „Ich habe einfach nur gestaunt, weil ich noch nie einen Torhüter so weit vorne mitspielen gesehen hatte. Normalerweise kommen Torhüter ja nur zu Rettungsaktionen so weit aus dem eigenen Tor“, sagt der 55-Jährige im Gespräch.
Eine Revolution stellt für ihn das System jedoch nicht dar: „Es ist mehr eine Art natürliche Evolution. Torhüter werden von Saison zu Saison besser im Umgang mit dem Ball. Dieses System erlaubt es uns nun, unser Spiel viel offensiver zu gestalten.”
Warum Titz das System beim kriselnden HSV anwendete
Genau das hatte Titz auch beabsichtigt, als er die Profimannschaft des HSV im März 2018 übernahm:
„Als ich das Team mit meinem Trainerstab übernahm, waren wir abgeschlagen. Wenn man ehrlich ist, waren wir zu diesem Zeitpunkt abgestiegen. Wenn du dann tief stehen willst und ins Umschaltspiel gehst, kriegst du ja nicht unbedingt das Selbstvertrauen aufgebaut, das ja ohnehin schon angeschlagen war. Die Jungs haben nicht gerade Selbstsicherheit versprüht. Der HSV hatte damals mit Aaron Hunt und Lewis Holtby zwei außergewöhnlich gute Achter“, hält Titz im Gespräch fest.
„Diese Spieler waren in der Vergangenheit so erfolgreich, weil sie in Teams gespielt haben, in denen sie öfter in der Endzone waren. Dort konnten sie ihre Stärke ausspielen, wenn sie sich aus dem Deckungsschatten lösen konnten, Pässe in die Schnittstelle spielen und zu Torabschlüssen kamen. Das waren zwei Spieler, die man im Umschaltspiel ein bisschen ihrer eigenen Stärke beraubt hat. Also war die Idee klar – Es gibt nicht viele Bundesligateams, die zwei so gute Achter haben. Wie kriege ich die zwei besser ins Spiel rein? Dafür mussten wir das gesamte Spiel weiter nach vorn verlagern.“
Und das tat Titz dann auch. Spieler wie Aaron Hunt und Matti Steinmann blühten unter Christian Titz wieder auf. Lewis Holtby erstarkte, traf in den restlichen acht Saisonspielen fünf mal.
Julian Pollersbeck gerät in den Fokus
Auch Julian Pollersbeck geriet durch sein offensives Spiel in den Fokus der Öffentlichkeit. Kurz darauf erkor ihn Oliver Kahn zum künftigen Nationaltorhüter.
Für Christian Titz kam das nicht überraschend: „Wenn du als Trainer jemanden wie Julian Pollersbeck bekommst, ist das ein Glücksfall. Julian ist charakterlich ziemlich gerade. Er hat Ruhe und Mut in sich, kann Fußball spielen und ist außerdem unglaublich lernbegierig. Es ist ein großer Verdienst von Julian, dass er da steht, wo er gerade steht. Weil er das mit Ehrgeiz, Willen und seiner Einsatzbereitschaft Woche für Woche bestätigt.“
Hat das System Zukunft?
Julian Pollersbeck begeisterte mit seiner offensiven Rolle etliche Fußballfans. Werden wir dies auch künftig bei anderen Torhütern sehen? Das ist mehr als wahrscheinlich. Mit dem FC Nordsjaelland und Paris Saint-Germain spielen die ersten Teams mit offensiven Torhütern.
Die Zahl dürfte sich in den kommenden Jahren drastisch erhöhen, wenn man Flemming Pedersen glauben schenken mag: „Ich denke, dass immer mehr Teams ihre Torhüter auf dem Platz offensiver einsetzen werden. Das Spiel wird schneller werden und der Keeper muss viel größere Strecken als jetzt zurücklegen, da auch die hintere Verteidigungslinie sowohl bei als auch außerhalb des Ballbesitzes höher spielen wird.“
Und Pedersen geht noch weiter: „In naher Zukunft werden Stellungsspiel, Wahrnehmung, Reaktion und die Ballsicherheit des Torhüters noch wichtiger als heute. Old-Fashion-Keeper wie Joe Hart, die nur Schlüsse parieren können, werden aus dem Spiel mit der Zeit ausgeschlossen. Im modernen Spiel verhindern die besten Torhüter die Chance, anstatt lediglich den Schuss zu entschärfen.“
Die Titz-Taktik – Nicht für jeden was
So gut diese Prognose auch für das System von Christian Titz sein mag, für alle Teams wird diese Taktik nicht geeignet sein. Dominante, spielstarke Mannschaften bekommen einen weiteren Zielspieler für ihre Ballstafetten frei.
Für schwächere, konterversierte Teams kann das System jedoch wenig zielführend sein. Da für diese Teams Ballbesitz nicht die richtige Strategie ist, werden sie auf das Titzsche´ Torhüterspiel nicht zurückgreifen.
In der Bundesliga bauen Borussia Dortmund und Borussia Mönchengladbach vermehrt auf ihre Torhüter, in der zweiten Bundesliga zeigt auch Holstein Kiel ein reges Interesse am Spielaufbau durch ihren Keeper.
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Ob Christian Titz bei seinem nächsten Team auf seine bewährte Taktik setzt, wird die Zukunft zeigen. Verändert haben Christian Titz und sein Sohn das Verständnis des Torhüterspiels aber allemal.