Alexander Wehrle spricht im EXPRESS.de-Interview über seinen Wechsel zum VfB Stuttgart, die vergangenen neun Jahre beim 1. FC Köln und seine besondere Beziehung zu Anthony Modeste.
FC-Boss im Abschieds-Interview Wehrle: „Für beide Seiten der richtige Zeitpunkt“
Beim 1. FC Köln geht eine Ära zu Ende: Zum 20. März 2022 läuft Alexander Wehrles (47) Vertrag aus, dann verlässt er die Geißböcke nach mehr als neun Jahren als Geschäftsführer und wird Vorstandsvorsitzender beim VfB Stuttgart. Zuvor spricht Wehrle im EXPRESS.de-Abschieds-Interview über seinen Wechsel, seine emotionalsten Momente, schmerzhafte Tiefpunkte, Wünsche und verrückte Verhandlungen mit viel Reisschnaps.
Alexander Wehrle, wer Sie anruft, hört statt des üblichen Freizeichens die Höhner. Haben Sie so kurz vor Ihrem FC-Abschied wieder auf normales Tuten umgestellt?
Alexander Wehrle: Nein, dadurch hat man doch immer direkt ein nettes Gesprächsthema. Und die Musik soll auch Lebensfreude vermitteln, dem Anrufer gleich zu Beginn gute Laune bereiten. Von daher könnte es durchaus sein, dass mich die Höhner nach Stuttgart begleiten.
Nach neun Jahren in Köln übernehmen Sie den Vorstandsvorsitz beim VfB Stuttgart. Spekulationen über einen Wechsel gab es immer wieder – warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt?
Wehrle: Zum einen sind neun Jahre im Profifußball eine lange Zeit. Ich denke, nicht nur für mich, sondern auch für den Verein ist es hilfreich, neue Impulse zu bekommen. Als es erneut die Möglichkeit gab, zurück nach Stuttgart zu gehen, hat sich das einfach nach dem richtigen Moment angefühlt. Die Struktur, finanzielle Stabilität und sportliche Wettbewerbsfähigkeit des FC sind so weit vorhanden, um einen geordneten Übergabeprozess zu gewährleisten.
Ihr Vertrag endet am 20. März – dem Tag, an dem der FC gegen Dortmund endlich wieder vor 50.000 Fans spielen darf. Das wäre doch eine tolle Bühne für Ihren Abschied.
Wehrle: Es wäre aber auch genau das, was ich nicht will: Ich kann nicht Sonntagabend den einen Klubanzug tragen und Montagmorgen den nächsten. Mir ist wichtig, diesen Wechsel auch emotional verarbeiten zu können. Dafür brauche ich eine gewisse Distanz. Deswegen werde ich mich diese Woche noch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Mannschaft verabschieden, dann für den FC am DFB-Bundestag teilnehmen und anschließend mein Amt niederlegen. Schon in den vergangenen Wochen habe ich ganz, ganz viele tolle Zuschriften bekommen von Mitgliedern, von Fans – das hat mich total gefreut. Die, die mir nicht geschrieben haben und vielleicht froh sind, dass ich weg bin, möchte ich an dieser Stelle trotzdem auch grüßen und mich für die schöne Zeit bedanken (lacht).
Alexander Wehrle: „Dass ich neun Jahre bleibe, konnte keiner ahnen“
Hätten Sie sich vorstellen können, beim FC zu bleiben? Beispielsweise, wenn Ihnen der Vorstand nicht nur eine Vertragsverlängerung um ein weiteres Jahr angeboten hätte.
Wehrle: Ich glaube, damit sollten wir uns alle nicht beschäftigen. Am Ende ist es für beide Seiten der richtige Zeitpunkt und auch die richtige Entscheidung.
Böse Zungen nannten Sie ein Opfer des Vorstands. Was sagen Sie dazu?
Wehrle: Ich hatte einen Vertrag bis 30. Juni 2023 und den hätte ich auch erfüllen können. Nachdem Stuttgart auf mich zugekommen ist, habe ich mich aber in Absprache mit Werner Wolf dafür entschieden, die Gespräche dort zu intensivieren. Ich war immer sehr transparent in meiner Vorgehensweise, jeder Schritt war abgestimmt. Das war bereits bei der ersten Anfrage aus Stuttgart im vergangenen Sommer so. Damals hat mir Werner Wolf gesagt, dass ich keine Freigabe bekommen würde. Deshalb bin ich auch gar nicht erst in die Gespräche gegangen.
Wie sehen Sie den FC mit den neuen Geschäftsführern Philipp Türoff und Christian Keller aufgestellt?
Wehrle: Mit Philipp Türoff habe ich die letzten acht, neun Wochen sehr intensiv verbracht. Er ist ein erfahrener Manager, der die Prozesse, aber auch die strategische Ausrichtung einer Organisation beziehungsweise eines Unternehmens sehr gut steuern kann. Von daher ist der FC bei ihm in sehr guten Händen. Christian Keller ergänzt die Geschäftsführung am 1. April, mit ihm kommt Erfahrung im Bundesliga-Geschäft.
Aktuell erwischen wir Sie zwar im Urlaub, aber eine wirkliche Auszeit gönnen Sie sich nicht. Hätten Sie nach neun Jahren FC nicht eine längere Pause gebraucht? Nicht erst das Beispiel Max Eberl zeigt, wie sehr die Fußball-Branche schlauchen kann.
Wehrle: Ursprünglich war der 1. Juli als Arbeitsbeginn beim VfB geplant. Aufgrund verschiedener Gegebenheiten fange ich nun früher, zum 21. März, an. Ich bin der Letzte, der sagen würde, ich benötige jetzt mal drei Monate Auszeit, wenn ich gebraucht werde. Klar, für jeden Akku ist es gut, wenn er nach so einer intensiven Zeit mal aufgeladen wird. Ich kenne es allerdings gar nicht anders: Ich hatte in nun 19 Jahren Fußball-Bundesliga erst einmal zweieinhalb Wochen Urlaub am Stück. Eine Pause hätte mir gutgetan – aber ich stecke auch so voller Energie, um die Aufgabe in Stuttgart anzugehen.
Vom VfB sind Sie damals, im Januar 2013, nach Köln gekommen. Mit welchen Zielen und Erwartungen?
Wehrle: Es war der 17. Januar 2013 und mein Ziel war erst einmal, meinen Vertrag – der damals drei Jahre ging – zu erfüllen. In Stuttgart war ich zuvor Assistent der Geschäftsführung, es war für mich eine super Chance, so eine Position in Köln zu bekommen. Auf der anderen Seite war es rückblickend auch ein extremes Risiko, weil ich 2013 natürlich noch nicht die Erfahrungswerte hatte, die ich heute habe. Dass ich neun Jahre bleiben würde, konnte keiner ahnen.
Alexander Wehrle: „Da habe ich den Verein noch mal besser verstanden“
Wie ging es dem FC damals und wie geht es ihm heute?
Wehrle: Als ich angefangen habe, war der FC auf dem neunten Tabellenplatz in der 2. Bundesliga und hatte wirtschaftliche Herausforderungen vor sich. Es galt, den Verein zu konsolidieren, zu stabilisieren und wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das ist zusammen im Team – in den ersten Jahren mit Jörg Schmadtke und Peter Stöger, danach mit Armin Veh und Horst Heldt – auf Strecke gelungen. Sodass wir jetzt aus meiner Sicht ein Bundesligist sind, der die nächsten Jahre absolut wettbewerbsfähig ist – und zwar im sportlichen wie auch im wirtschaftlichen Bereich. Wenn man mal überlegt: Wir haben 2013 mit 56 Millionen Euro Umsatz begonnen, hatten zwischenzeitlich, nachdem wir uns vier Jahre später für Europa qualifiziert hatten, 170 Millionen Euro Umsatz. Daran sieht man, dass diese Kurve durchaus positiv verlaufen ist.
Ist die finanzielle Situation nun, bei Ihrem Abschied, durch die Pandemie ähnlich prekär wie in Ihren Anfangstagen?
Wehrle: Die Herausforderung durch die Pandemie war schon extrem – 85 Millionen Umsatzverlust in zwei Jahren kann man nicht einfach so kompensieren. Entscheidend ist, dass Liquidität und Eigenkapital einigermaßen stabil sind, sodass der Klub nach wie vor wettbewerbsfähig ist. Aber natürlich muss man bedenken, dass die Landesbürgschaft, die Genussrechte und weitere Maßnahmen, die wir in Anspruch nehmen mussten, noch die nächsten ein, zwei Jahre beeinflussen werden. Dadurch muss der Klub den Gürtel enger schnallen. Das geht aber nicht nur dem FC so, sondern vielen Vereinen, die von ihren Zuschauereinnahmen enorm profitieren.
Was sind rückblickend Ihre schönsten Erinnerungen aus neun Jahren 1. FC Köln?
Wehrle: Es gab viele unvergessliche Momente, vor allem zwei waren für mich sehr emotional: Zum einen das 2:0 von Yuya Osako gegen Mainz, mit dem klar war, dass wir uns zum ersten Mal nach 25 Jahren für Europa qualifizieren. Die Dimension dieses Erfolgs wurde mir erst im Anschluss so richtig klar: Als die Ringe zwei Tage gesperrt waren, weil gefeiert wurde. Da habe ich gemerkt, was das dieser Stadt bedeutet hat, und den Verein noch mal ein Stück besser verstanden. Vor allem die Faszination der Menschen für den FC.
Und Nummer zwei?
Wehrle: Tony Modestes erstes Spiel nach seiner Rückkehr aus China, als er in Paderborn eingewechselt wurde und vier Minuten später das 2:0 geschossen hat. Davor hatte ich Monate damit verbracht, ihn zurück zum FC in die zweite Liga zu holen. Er hat dann sehr emotional reagiert, und Armin Veh und ich auf der Tribüne ebenso. Auch wenn wir noch 2:3 verloren haben, war das wirklich ein besonderer Moment, weil wir von Oktober bis Februar darauf hingearbeitet hatten und echt viel für Tony kämpfen mussten.
Waren die Verhandlungen um und mit Modeste auch Ihre verrücktesten beim FC?
Wehrle: Definitiv. Schon als wir Tony ein Jahr davor für 28 Millionen nach China transferiert hatten, hat sich das durch verschiedenste Vertragskonstrukte extrem gezogen. 14 Monate später gab’s die Möglichkeit, ihn ablösefrei zurückzuholen. Ich war insgesamt dreimal vor Ort und die Gespräche dort waren in der Tat sehr speziell. Verhandlungen in China hängen in der Regel immer mit viel Reisschnaps zusammen. Da musste ich mich zusammennehmen, um auch diese Übung einigermaßen zu überstehen (lacht).
Alexander Wehrle wäre mit Peter Stöger in die 2. Bundesliga gegangen
Es gab nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen. Ist da zuallererst der Absturz nach dem Europa-League-Einzug zu nennen?
Wehrle: Mit Sicherheit. Es gab zwei extrem große Herausforderungen: Die eine war, von Europa kommend, am 14. Spieltag mit einem 2:2 auf Schalke den erst dritten Bundesliga-Punkt erreicht zu haben. Gleichzeitig wusste ich, dass Peter Stöger nicht mehr bereit war, weiterzuarbeiten. Ich persönlich hätte mir damals auch vorstellen können, mit Peter in die zweite Liga zu gehen. Er hatte aber für sich den Eindruck, nicht mehr mit voller Energie weiterarbeiten zu können. So eine Krise, eine Achterbahn der Gefühle wünsche ich niemandem. Die zweite große Herausforderung war dann die Corona-Pandemie, weil die Situation von heute auf morgen wirklich existenzbedrohend war.
Schmerzt es, dass Sie den ersten Spatenstich des Geißbockheim-Ausbaus, eines Ihrer intensivsten Projekte, nicht mehr als FC-Boss erleben werden?
Wehrle: Das tut schon weh. Ich habe das Projekt sieben Jahre lang forciert. Wenn man jeden Verfahrensschritt transparent mitgemacht hat und am Ende einzelne Personen aus der Politik nicht verlässlich sind, dann schmerzt es mich. Ich habe bis zu meinem letzten Tag noch versucht, unsere Kompromiss-Bereitschaft zu zeigen und Lösungen auszuloten. Ich bin daher zuversichtlich, dass der FC dieses Projekt in den nächsten Monaten endlich erfolgreich abschließen kann.
Gab es zu irgendeinem Zeitpunkt mal den Gedanken bei Ihnen, hinzuschmeißen?
Wehrle: Nein, nie. Natürlich gab es da Momente, wo man sich fragt: Puh, wann hört das denn auf? Ich würde gerne mal wieder ein, zwei Spielzeiten in Ruhe arbeiten. Es kann ja nicht immer nur um Krisenbewältigung gehen, sondern auch darum, den Verein nach vorne zu bringen, zu entwickeln. Vor allem, nachdem Armin Veh den Klub verlassen hat und Horst Heldt gehen musste, als ich mit dem jeweiligen Vorstand versucht habe, die Krise zu bewältigen, war es schwierig. Allerdings bin ich schon der Auffassung, dass man standfest sein muss, wenn man eine Aufgabe annimmt.
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Vergangene Saison stand der Klub kurz davor, in die nächste riesige Krise zu schlittern. Am 34. Spieltag gegen Schalke fehlten nur ein paar Minuten zum Abstieg, bevor Sebastiaan Bornauw den FC noch in die Relegation köpfte. Allerdings haben Sie das Tor nicht im Stadion gesehen. Wie kam es dazu?
Wehrle: (lacht) Das ist vollkommen richtig und hatte etwas mit Aberglauben zu tun. Letzte Saison habe ich immer jeweils dann das Stadion verlassen, wenn wir in Führung gegangen sind. Der Höhepunkt war, als wir in Augsburg nach acht Minuten das 1:0 geschossen haben. Da bin ich sofort ins Auto gestiegen und nach Konstanz gefahren. Auf der Fähre habe ich dann das Ergebnis (3:2, Anm. d. Red.) mitbekommen. Am 34. Spieltag gegen Schalke wurde es besonders kurios: Sebastian Andersson hat nach 70 Minuten das 1:0 geschossen und ich bin sofort raus, auf die Autobahn und eine Runde um die Stadt gefahren. Als ich zurückkam, war das Spiel 1:0 ausgegangen. Ich hatte aber nicht mitbekommen, dass Anderssons Tor aberkannt wurde. Irgendwann sagte Horst Heldt: „Es war schon sensationell, wie Sebastiaan den Kopfball reingemacht hat.“ Ich habe die Welt nicht mehr verstanden und dann wurde mir erst klar, was passiert war. Das war schon brutal. Aber am Ende ist es ja gutgegangen – und ich habe meinen Teil beigetragen.
Auch in dieser Saison kommt es am 34. Spieltag (14. Mai) zu einem besonderen Spiel – Ihr Wiedersehen mit dem FC in Stuttgart. Womöglich brauchen Sie eine Kölner Niederlage für den Klassenerhalt. Graut es Ihnen vor dem Tag?
Wehrle: Weder der Abstieg noch der Europapokal-Einzug werden allein am letzten Spieltag entschieden. Also nein, ich freue mich auf den 34. Spieltag. Am liebsten wäre es mir, wenn der VfB bis dahin den Klassenerhalt geschafft und der FC die Europa League schon sicher hätte. Dann könnten wir nämlich alle zusammen ein Kölsch trinken. Oder eben ein Glas Württemberger.
Was wünschen Sie dem FC für die Zukunft?
Wehrle: Ich wünsche dem FC, dass er sich als stabiler Bundesligist etabliert. Ich hoffe, dass die Faszination für diesen Verein und der Zusammenhalt zwischen den Menschen in Köln und dem Klub so beibehalten werden. Und ich werde den FC natürlich weiter verfolgen und häufiger in Köln zu Gast sein – um immer wieder die zahlreichen tollen Menschen, die ich hier kennenlernen durfte, zu treffen.